Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0316
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
296 Jenseits von Gut und Böse

seine modernen Interpreten tun: Nach seiner Quelle bedeutet Aidos schlicht
nicht Scham.
So schillernd und erläuterungsbedürftig Aiödx; auch sein mag: Für die
Deutung der „Scham eines Gottes“ in JGB 40 ist dieser Begriff ohne Belang,
auch weil die Scham Gottes doch wohl eine Scham vor sich selbst und nicht
vor per definitionem niedrigeren Geschöpfen ist (es sei denn, er ist Gott unter
Göttern - aber haben Aphrodite und Ares vor Ihresgleichen Scham empfun-
den, als sie von Hephaistos in flagranti ertappt und den anderen, bald home-
risch lachenden Göttern zur Schau wurden wurden? Homer: Odyssee VIII 256-
366 sagt davon kein Wort. Vgl. NK 236, 19). Insofern der christliche Gott als
vollkommenstes Wesen gedacht zu werden pflegt, kann er nach orthodoxer
theologischer Auffassung auch keine Scham empfinden, denn da er immer al-
les vollkommen macht, gibt es nichts, dessen er sich schämen müsste. Indes
ist bemerkenswert, dass im Neuen Testament doch - wenigstens in der von N.
benutzten Luther-Übersetzung - Gott ausdrücklich zugeschrieben wird, dass
er sich nicht schäme. Der Hebräer-Brief spricht über die Sehnsucht der Gläubi-
gen nach einer himmlischen Heimat, worauf der Briefsteller versichert: „Da-
rum schämet sich GOtt nicht, zu heißen ihr GOtt; denn er hat ihnen eine Stadt
zubereitet.“ (Hebräer 11, 16. Die Bibel: Neues Testament 1818, 281. Im Original:
„öio ouk EnaioxvvETai avTovc; ö Osoc; Osoc; sniKaAsiaOai auTwv- ffroipaoEv yap
avTok; noAiv.“) Von Christus, den die nachbiblische, kirchliche Theologie ja
zum mit dem Vater wesensgleichen Sohn Gottes, damit unzweideutig zum Gott
selbst erheben sollte, heißt es bereits in Hebräer 2, 11 unter Verwendung der
identischen Formel „oük EnaioxvvETai“: „Sintemal sie alle von Einem kom-
men; beide der da heiliget, und die da geheiliget werden. Darum schämet er
sich auch nicht, sie Brüder zu heißen“ (Die Bibel: Neues Testament 1818,274. Im
Original: „Ö te yap äyia^wv Kai oi äyia0p£voi e^ evoc; navTsc;- 6i’ r)v arriav ovk
snaiaxvvsTai äösAcpovc; avTovc; koAeiv“). Christlich gedacht, könnte Gott also
versucht sein, sich vor sich selbst zu schämen, weil er sich mit so nichtswürdigen
Wesen wie Menschen einlässt, ja sich sogar mit ihnen gemein macht, indem er
selbst Mensch wird. Nach orthodoxer Lehre setzt sich der christliche Gott nicht
nur eine menschliche Maske auf, sondern wird wahrhaft Mensch, wobei er seine
Göttlichkeit verbergen muss (vgl. Philipper 2,5-7) und nur so dem Menschen hel-
fen kann - womöglich auch, um den Menschen nicht zu beschämen (was im Üb-
rigen auch für die griechischen Götter in Menschengestalt ebenso gegolten ha-
ben mag wie für die indischen, vgl. Goethes Ballade Der Gott und die Bajadere
von 1798). Auch der Koran (Sure 2, Vers 26) kennt die anthropomorphe Rede vom
Gott, der sich nicht schämt: „Fürwahr, Gott braucht sich nicht zu schämen, wenn
er Gleichnisse von Insecten und noch Kleinerem nimmt“ (Koran 1840, 3). Aber
weder die griechischen oder die indischen Götter noch der Gott des Islam wählen
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften