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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0343
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Stellenkommentar JGB 46, KSA 5, S. 67 323

Obwohl beispielsweise NL 1887/88, KSA 13, 11[282], 109, 3 (KGW IX 7, W II
3, 93, 12) den Apostel Paulus mit dem „Gott am Kreuze“ assoziiert, findet sich
in dessen überlieferten Briefen die Wendung nicht, pochte er noch sehr auf
das „Aergerniß des Kreuzes“ (Galater 5, 11. Die Bibel: Neues Testament 1818,
228; vgl. 1. Korinther 1, 17 f.). Allerdings kommt sie im religiösen Vokabular
durchaus vor, so etwa beim populären evangelischen Lieddichter Christoph
Carl Ludwig von Pfeil (1712-1784), dessen Lieder im 19. Jahrhundert noch weit-
verbreitet waren (,„Erd’ und Himmel sei es kund! Mein GOtt ist der am
Kreuz!4/ ,Wie? GOtt am Kreuz! wie reimt sich dies?4 — so spricht Vernunft
und Welt, wenn dieses Wort zum Aergerniß ihr in die Ohren gellt. / [...] / Es
muß ein GOtt sein, der in mir das Wunder wirken kann, zu glauben: der mit
Nägeln hier ans Kreuz geheft’te Mann, / Der Mensch, der als ein Fluch der Welt
da zwischen Schächern stirbt, sei GOtt, Sein Blut das Lösegeld, das alle Welt
erwirbt. / Und daß das Wort vom Kreuzes-Schmerz des HErrn, wer’s gläubig
hört, das allerhärt’ste Felsen-Herz zu GOtt am Kreuz bekehrt“. Pfeil 1856, 52)
Auch Johann Georg Hamann benutzte die Formel; jedoch findet sich die Stelle
nicht im ersten, von N. 1873 der Basler Universitätsbibliothek entliehenen Band
der Petri-Ausgabe von Hamanns Schriften (vgl. NK 94, 12 f.), sondern erst im
zweiten („Ihr wünscht euch heimlich zu eurer Blindheit Glück, wenn Gott am
Kreuz unter die Missethäter gerechnet wird“ - Hamann 1872, 2, 139).
Das erste Auftreten des „Gottes am Kreuz(e)44 erst 1884 macht eine andere
Quelle wahrscheinlich, nämlich Hans von Wolzogens Die Religion des Mitlei-
dens und die Ungleichheit der menschlichen Racen. Diese auf der Grundlage
von Wagners Parsifal rassenreligionsstifterisch argumentierende Schrift des N.
wohlbekannten Berufswagnerianers Wolzogen war in einzelnen Folgen in den
von diesem herausgegebenen Bayreuther Blättern 1882 und 1883 erschienen;
N. besaß eine heute in seiner Bibliothek verschollene Buchausgabe, wohl ein
Separatdruck (vgl. NK KSA 6, 172, 28 f.). Die gedankliche Vorlage stammt aus
Wagners 1880 entstandener „Regenerationsschrift“ Religion und Kunst, in der
die Verführungskraft des christlichen Gottesbildes fassbar wird, „der zu qual-
vollem Leiden am Kreuze ausgespannte Leib des höchsten Inbegriffes aller mit-
leidvollen Liebe selbst. Ein unwiderstehlich zu wiederum höchstem Mitleiden,
zur Anbetung des Leidens und zur Nachahmung durch Brechung alles selbst-
süchtigen Willens hinreißendes - Symbol? - nein: Bild, wirkliches Abbild. In
ihm und seiner Wirkung auf das menschliche Gemüth liegt der ganze Zauber,
durch welchen die Kirche sich zunächst die griechisch-römische Welt zu eigen
machte.“ (Wagner 1907, 10, 215) Wagner benutzte diese Beobachtung für eine
marcionitische, antisemitisch grundierte Unterscheidung zwischen dem
schlimmen, jüdischen Gott des Alten Testaments und dem guten, christlichen
Gott des Neuen Testaments: „Was ihr [sc. der griechisch-römischen Welt] dage-
 
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