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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0342
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322 Jenseits von Gut und Böse

samen Ascetik, mit Selbstverstümmelung und Vernichtung. Ja diese sinnlich
ausschweifenden und ascetisch blutigen Dienste werden durch jenes geheim-
nißvolle Band, welches in der menschlichen Brust Wollust und Schmerz nahe
an einander rückt, verschmolzen, so daß dieser Kultus ein treues Abbild der
semitischen Sinnesart giebt, welche zwischen üppigem Genuß und fanatischer
Zerstörung, zwischen sklavischer Kriecherei und hartherzigem Trotz, zwischen
weibischem Versinken in den Harem und kühnen Kriegsthaten hin und her
schwankt.“ (Duncker 1863, 1, 346 f.) Bereits 1875 entlieh N. aus der Basler Uni-
versitätsbibliothek Franz Carl Movers’ Standardwerk Die Phönizier von 1841-
1856 (Crescenzi 1994, 436). Zur „Selbstverstümmelung“ als „Gipfel der Weis-
heit“ hat sich N. auch bei Eugen Dühring belesen, vgl. seinen Brief an Köselitz,
23. 07.1885, Nr. 613, S. 69, Z. 54 f.
67, 2 Absurdissimum] Lateinisch: „Widersinnigstes“, „Misstönendstes“, „Sinn-
losestes“.
67, 3-7 Die modernen Menschen, mit ihrer Abstumpfung gegen alle christliche
Nomenklatur, fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach, das für
einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel „Gott am Kreuze“ lag.]
Der Gedanke und die Formel kehren in N.s späten Werken mehrfach wieder,
so in GM I 8, KSA 5, 269, 13-18 („Etwas, das an verlockender, berauschender,
betäubender, verderbender Kraft jenem Symbol des »heiligen Kreuzes4 gleich-
käme, jener schauerlichen Paradoxie eines »Gottes am Kreuze4, jenem Mysteri-
um einer unausdenkbaren letzten äussersten Grausamkeit und Selbstkreuzi-
gung Gottes zum Heile des Menschen? ...“), in AC 51 und AC 58, vgl. NK
KSA 6, 232,15-20. Von 1884 an begegnet „Gott am Kreuz(e)44 auch im Nachlass,
und zwar als „schauerlicher Gedanke“, als „Superlativ des Paradoxen!“ (NL
1884, KSA 11, 25[292], 86, 2-6). Zu Zeiten der Kaiser Nero und Caracalla habe
sich ein Gottesbild Bahn gebrochen, „welches möglichst entfernt war vom
Bilde der Mächtigsten — der Gott am Kreuze! / — die Römer haben bisher das
größte Unglück Europas verschuldet, das Volk der Unmäßig-
keit -sie haben Extreme zur Herrschaft gebracht und extreme Para-
doxien, wie den »Gott am Kreuze4 / — man muß erst die Unterscheidung
lernen: für die Griechen, wider die Römer — das heiße ich antike Bil-
dung“ (NL 1884, KSA 11, 25[344], 102, 28-103, 6). Das historische Material,
das aus denselben Elementen besteht, wird hier noch ganz anders arrangiert
als in JGB 46: Das Römische Reich erscheint dabei nicht als Opfer einer sklavi-
schen Verschwörung, sondern ist vielmehr selber für ein welthistorisches Un-
glück verantwortlich: Statt gegen Rom kommt das Verderben aus Rom. In der
Gegenwart jedenfalls hat nach NL 1885/86, KSA 12, 2[144], 138, 23 f. (KGW IX
5, W I 8, 77, 34) „jene furchtbare Lösung eines »Gottes am Kreuze4“ ihre Bin-
dungskraft für ein nerventherapeutisches Christentum verloren.
 
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