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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0380
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360 Jenseits von Gut und Böse

haupt zu Rate ziehen will - im Kontrastandpunkt zur Moral, im Immoralismus
begründet, der nur dann konsequent verwirklicht ist, wenn der Immoralist eine
Welt gutheißt, die angefüllt ist mit dem, was in der herkömmlichen Moral als
Übel galt. Dazu gehört insbesondere das Leiden, das JGB 56 sorgfältig ausspart,
auch dadurch, dass der optischen Metaphorik breitester Raum gegeben wird:
Unentwegt ist in der Geschichtsprophetie von JGB 56 von „Augen“, vom „Bli-
cken“, vom „Schauspiel“ die Rede, um damit größtmögliche Distanz zu mar-
kieren: Wer die Welt wie weiland Gott oder die Götter nur als ein Schauspiel
betrachtet, der lässt sich von Übel und Leiden nicht nur nicht mehr berühren,
er wünscht im Gegenteil um der Fortsetzung des Schauspiels willen deren Ver-
stetigung. Das Empörende, weil Moralfeindliche der immoralistisch motivier-
ten Gedankenfigur der Ewigen Wiederkunft besteht darin, dass dieser Gedanke
die Übel und das Leiden nicht nur hinnimmt, sondern gerade deren Perpetuie-
rung verlangt. In diesem Sinne wäre die Ewige Wiederkunft tatsächlich der
„abgründlichste[.] Gedanke[.]“ (Za III Der Genesende 1, KSA 4, 271, 5): weil sie
die Grundlage aller bisherigen Moral, nämlich die Unterscheidung von Gütern
und Übeln, vernichtet. Derjenige, der tatsächlich zu allem, was geschieht, un-
entwegt „da capo“ (KSA 5, 75, 6) ruft und damit die (eigentlich in der Musik
gebräuchliche) Anweisung gibt, alles noch einmal von vorne zu beginnen, gibt
jede Unterscheidbarkeit von Gütern und Übeln auf, will keine Übel abschaffen
und kein Leiden verringern, wünscht hingegen deren Fortschreibung ad infini-
tum. Die Menschen der Bejahung befinden sich auf der womöglich obersten
Sprosse der „Leiter der [...] Grausamkeit“ (74, 2), arrangieren sie sich doch
nicht nur mit der Grausamkeit, sondern wünschen ihre Verstetigung, womit
diese Menschen auch ihr eigenes Leiden bis in alle Zukunft auf sich zu nehmen
bereit sind. Kein Ideal eines neuen Gottes wird dabei aufgestellt, dafür aus-
drücklich das Ideal eines neuen Menschen (vgl. 75, 2f.). Insofern ist der Einfall,
JGB 56 verkünde eine neue Religion, abwegig, es sei denn, man denke sich
diese Religion als eine gottlose.
Nun jedoch scheinen die rätselhaften Schlussworte, die in der Forschung
so viele unterschiedlichen Deutungen provoziert haben (vgl. z. B. Grau 1984,
222; Müller-Lauter 1999a, 307-309; Steinmann 2000, 234 f.; Lampert 2001,
120 f.; Skowron 2002, 38; Lomax 2003, 85; Del Caro 2004, 191; Loeb 2008, 189;
Stegmaier 2012, 20 f.), die Rückkehr zu einem wie auch immer gearteten Gott
zu indizieren. Dabei geben die drei ohne Prädikat im Nominativ aneinander
gereihten lateinischen Worte - „Kreis“, „lasterhaft“/„fehlerhaft“ und „Gott“ -
zunächst das Problem auf, wie man sie aufeinander beziehen und damit über-
setzen soll: „Circulus vitiosus“ ist ein gängiger Terminus in der Logik und Ar-
gumentationsanalyse für eine fehlerhafte Form der Beweisführung, bei der das
zu Beweisende schon in den Prämissen enthalten ist. In diesem Sinne pflegt
 
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