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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0412
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392 Jenseits von Gut und Böse

graphische Aussage im Zentrum zu stehen, bei der im Unterschied zu den bei-
den späteren Fassungen auffällt, dass es offensichtlich nicht bei diesem Zu-
stand des Getäuschtwerdens bleiben soll. Liegt nun die Göttlichkeit des Gottes
in den Versionen KSA 10, 3[1]226 und JGB 66 - die vor dem Hintergrund der
früheren Version KSA 10, l[40] die Göttlichkeit des sprechenden Ich und damit
die Vorwegnahme der 1888/89 dann pointierten Selbstvergöttlichung in der
Selbstinszenierung N.s insinuieren könnten - gerade darin, sich weiter und
bewusst zum Opfer dieser Übel zu machen, und zwar ganz im Sinne der Auffor-
derung Jesu, dem Übel nicht zu widerstehen (Matthäus 5, 39, nach AC 29 das
„tiefste Wort der Evangelien“, vgl. NK KSA 6, 200, 1-3)? Bekanntlich befolgt
Jesus - nach christlicher Überzeugung der menschgewordene Gott - im Unter-
schied zum „Ich“ in NL 1882, KSA 10, l[40] nach dem biblischen Bericht seine
eigene Aufforderung bis zum Schluss, setzt sich also der Herabsetzung und
Ausbeutung bewusst aus.
In JGB 40, KSA 5, 57, 28 f. erscheint die „Scham eines Gottes“ als etwas,
das nach „Verkleidung“ in seinen „Gegensatz“ heischt. Auch hier wird zwar
ein theologischer Kontext aufgerufen, der sogar mit manchen christlichen Vor-
stellungen kongruiert - durch seine Inkarnation macht sich der allmächtige
Gott nach einer protestantischen Lesart zu einem ohnmächtigen Menschen (in
der Theologie wird die Gedankenfigur unter dem Begriff der Kenosis im An-
schluss an Philipper 2, 5-7 diskutiert), wählt also für seine irdische Existenz
bewusst seinen „Gegensatz“. Aber es ist deutlich, dass es in JGB 40 hauptsäch-
lich um menschliche und literarische Verkleidungen und Masken geht (vgl. NK
57, 27-29). Statt an den unrechtleidenden, christlichen Gott wird bei N. an ande-
rer Stelle die Macht eines auf Erden kommenden Gottes gerade ans Unrechttun-
Können gebunden, vgl. NK KSA 6, 271, 28-32.
67.
86, 2 f. Die Liebe zu Einem ist eine Barbarei: denn sie wird auf Unkosten aller
Übrigen ausgeübt. Auch die Liebe zu Gott.] Die Vorfassung in NL 1882 blendet
Gott als Objekt der Liebe aus, so dass die alte christliche Forderung, der zufol-
ge Gott eigentlich allein Gegenstand der Liebe sein solle, in den Hintergrund
rückt: „Die Liebe zu Einem ist eine Barbarei, ausgeübt auf Unkosten aller Übri-
gen und ein Schaden der Erkenntniß. Sondern Viele sollst du lieben: — da
zwingt dich die Liebe zur Gerechtigkeit gegen Jeden: und folglich zur Erkennt-
niß eines Jeden. Die Liebe zu Vielen ist der Weg zur Erkenntniß.“ (NL 1882,
KSA 10, 3[1]214, 78, 9-13. KGW VII 4/1, 79 f. teilt dazu folgende Erstfassung
mit: „Wenn du nicht Einen, sondern Viele liebst, so zwingt dich die Liebe zur
Gerechtigkeit gegen Jeden: weshalb die Liebe zu Vielen die Vorstufe der Er-
 
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