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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0411
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Stellenkommentar JGB 66, KSA 5, S. 85 391

85,14f. Man ist am unehrlichsten gegen seinen Gott: er darf nicht sündigen!]
Eine Vorfassung findet sich in NL 1882, KSA 10, 3[1]118, 67, 15 f.: „Man ist am
strengsten gegen seinen Gott: er darf nicht sündigen!“ Darauf folgt unter der-
selben Nummer 118 noch der Satz „Gott erdachte die Teleologie der Schwanger-
schaft: da erdachte er das Weib.“ (KSA 10, 67, 17 f.).
Es gehört zu den dogmatischen Grundbegriffen des kirchlichen Christen-
tums, dass Gott in seiner Vollkommenheit und Güte nicht sündigen kann. Tho-
mas von Aquin: Summa Theologiae, pars I, quaestio 25, articulus 3 (2) erörterte
beispielsweise, ob der Satz „Deus non potest peccare, neque se ipsum negare“
(„Gott kann nicht sündigen und sich nicht selbst verneinen“, nach 2. Timo-
theus 2, 13), nicht der göttlichen Allmacht widerspreche. Für N. wiederum war
der Gottesbegriff Ausdruck menschlichen Wünschens; entsprechend ist der
Mensch in Gestalt des „man“ derjenige, der seinem Gott das Vermögen zu sün-
digen abspricht und ihm damit quasi zu sündigen verbietet, weil es seinem
Gottesbild widerspricht. Damit wird Gott zugleich zum menschlichen Gebilde
depotenziert. Dies ist charakteristisch für das christliche Gottesbild und die
ihm von N. unterstellte, psychologische Unehrlichkeit, während griechische
Götter (man denke z. B. an Zeus) nach menschlichen Maßstäben große Sünder
waren. In M 91, KSA 2, 84 f. wird herausgearbeitet, dass die Unehrlichkeit ein
Kennzeichen von Religion sei, so dass sie den jeweiligen Gott von der
„Pflicht“ freispreche, „gegen die Menschheit wahrhaftig und deutlich in der
Mittheilung zu sein“ (KSA 2, 85, 3-5). In JGB 65a wird diese Unehrlichkeit auch
auf das Verhältnis des Menschen zu Gott übertragen. (Monotheistische?) Religi-
on erweist sich damit in jeder Richtung als Täuschungsmanöver. In NL 1882,
KSA 10, 3[1]118, 67, 15 ist „am strengsten“ aus „am unehrlichsten“ korrigiert
worden (KGW VII 4/1, 70). N. griff in JGB 65a also auf die früheste Version des
Gedankens zurück.

66.
85,17-19 Die Neigung, sich herabzusetzen, sich bestehlen, belügen und ausbeu-
ten zu lassen, könnte die Scham eines Gottes unter Menschen sein.] Eine Vorfas-
sung findet sich in NL 1882, KSA 10, 3[1]226, 80, 1-3, wo die fragliche „Nei-
gung“ explizit als „Demuth“ bezeichnet wird. Der Gottesbezug, der im Vierten
Hauptstück gut ins Umfeld von JGB 66 zu passen scheint, kommt erst in 3[1]226
ins Spiel - dort hat die folgende Sentenz Gott zum Subjekt (NL 1882, KSA 10,
3 [1]227, 80, 4). Eine frühere Version hatte hingegen den Gottesbezug noch nicht
hergestellt: „Ich habe eine Neigung, mich bestehlen, ausbeuten zu lassen. Aber
als ich merkte, daß alles darauf aus war, mich zu täuschen, gerieth ich in
den Egoismus.“ (NL 1882, KSA 10, l[40], 20, 6-8) Hier scheint eine autobio-
 
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