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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0443
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Stellenkommentar JGB 109, KSA 5, S. 92 423

seiner diesbezüglichen Nähe zu Spinoza sehr wohl bewusst war - vgl. Sommer
2012c, 166).
Obwohl N. bereits im Frühwerk gelegentlich auf „moralische Phänomene“
zu sprechen kam - etwa bei der Katharsis in der Poetik des Aristoteles, „von
der die Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die
moralischen Phänomene zu rechnen sei“ (GT 22, KSA 1, 142, 20-23) -, und
obwohl er dieser Formulierung dann auch in einer unter seinen Büchern erhal-
tenen Comte-Übersetzung begegnet sein kann (Comte 1880, 24), dürfte ihr
pointierter Gebrauch in JGB 108, in den zitierten Nachlassstellen sowie in MA
I 107, KSA 2, 105, 14-16 („Sind Lust, Egoismus, Eitelkeit nothwendig zur
Erzeugung der moralischen Phänomene“?) vor allem von der Denk- und
Schreibgemeinschaft mit Paul Ree inspiriert worden sein. Im Vorwort seines
Buches Der Ursprung der moralischen Empfindungen skandierte Ree program-
matisch: Die „moralischen Phänomene werden vielfach als etwas Uebersinnli-
ches - als die Stimme Gottes, wie die Theologen sagen - betrachtet. [...] Jetzt
aber, seit La Marek und Darwin geschrieben /VIII/ haben, können die
moralischen Phänomene eben so gut auf natürliche Ursachen zurückgeführt
werden, wie die physischen: der moralische Mensch steht der intelligiblen Welt
nicht näher, als der physische Mensch.“ (Ree 1877, VII f. = Ree 2004, 126 f.
Vgl. auch Fornari 2009, 34 f.) Den letzten Satz nach dem Doppelpunkt zitierte,
diskutierte und appropriierte N. in MA I 37, KSA 2, 60, 34-61, 17, um ihn in EH
MA 6 schließlich - mit charakteristischen Veränderungen - ganz für sich selbst
zu reklamieren (vgl. ausführlich NK KSA 6, 327, 27-328, 25). (In einer am Ende
von Bruno Bauers Schrift Zur Orientirung über die Bismarck’sehe Ära abge-
druckten Verlagswerbung zu Rees Buch heißt es: „Wie bereits bei »Nietzsche,
Menschliches etc.‘ erwähnt, gelingt es dieser Schrift, die moralischen Phäno-
mene unter Vermeidung metaphysischer Annahmen begreiflich zu
machen“ - Bauer 1880, [332].) Die leitende Einsicht von Spinoza, Ree und N. ist
ähnlich: Moralische Erscheinungen sind keine feststehenden Fakten an sich,
sondern erweisen sich als Produkte menschlicher Deutungsarbeit. Aufbauend
auf Rees Ansatz eines historischen Philosophierens unternahm N. moralgenea-
logische Anstrengungen, um das Werden und die Transformation „moralischer
Phänomene“ zu durchleuchten und ihnen damit die prätendierte Grundlage in
re, in einer extramentalen Wirklichkeit zu entziehen. Zu JGB 108 siehe auch
Jaspers 1981, 141 u. Burnham 2007, 104-106. Den Abschnitt hat sich Thomas
Mann 1894/95 in einem Notizbuch exzerpiert (Mann 1991, 36).
109.
92,17 f. Der Verbrecher ist häufig genug seiner That nicht gewachsen: er verklei-
nert und verleumdet sie.] Vgl. NL 1882, KSA 10, 3[1]375, 99, lf.: „Der Verbrecher
 
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