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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0467
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Stellenkommentar JGB 135, KSA 5, S. 96 447

KSA 10, 3[1]167, 73, 10 namhaft gemacht, während der Eintrag NL 1882, KSA
10, 1[35], 18, 25 „Vom Glück des Pharisäers“ handelt. NL 1882/83, KSA 10,
4[26], 115, 17-116, 4 macht aus den „Guten“ sogar „die nothwendigen Phari-
säer. / Auch hier giebt es einen Gegensatz wie zwischen Religiösen und
Gläubigen. / Die das Gute Schaffenden haben ihren Gegensatz in den
Bewahrenden des Guten.“ Diesen Gedanken griff N. in Za III Von alten und
neuen Tafeln 26 auf und erinnerte dabei unmissverständlich an Jesus und sei-
ne Weherufe über die Pharisäer (vgl. z. B. Matthäus 5, 20): „Oh meine Brüder,
den Guten und Gerechten sah Einer einmal in’s Herz, der da sprach: ,es sind
die Pharisäer/ Aber man verstand ihn nicht. / Die Guten und Gerechten selber
durften ihn nicht verstehen: ihr Geist ist eingefangen in ihr gutes Gewissen.
Die Dummheit der Guten ist unergründlich klug. / Das aber ist die Wahrheit:
die Guten müssen Pharisäer sein, — sie haben keine Wahl! Die Guten müs-
sen Den kreuzigen, der sich seine eigne Tugend erfindet! Das ist die Wahr-
heit!“ (KSA 4, 266, 8-17).
Die als Konkurrenten Jesu im Neuen Testament prominent auftretenden
Pharisäer, eine jüdische Schule streng Gesetzestreuer namentlich aus ärmeren
Schichten, galten in der theologisch-christlichen Literatur, aber auch in den
distanzierteren Religionswissenschaften des 19. Jahrhunderts, entsprechend ih-
rer negativen Zeichnung in den Evangelien (vgl. z. B. Matthäus 15, 7 u. Markus
7, 6), als Vertreter eines heuchlerischen Rigorismus, hinter dem sich jedoch
nach Ernest Renans Vie de Jesus „eine große moralische Laxheit“ („un grand
relächement moral“ - Renan 1863, 329) verborgen habe, nach Daniel Schenkels
Charakterbild Jesu der ,,geheime[.] Selbstbetrug des geistlichen
Hochmuthes“ (Schenkel 1864, 90).
Schon NL 1880, KSA 10, 6[318], 278,14-279, 2 opponiert gegen diese Auffas-
sung: „Es ist beschränkt, die Pharisäer als Heuchler aufzufassen, sie leben im-
mer in dem festen Zutrauen zu ihren Handlungen, sie sehen sie nicht tiefer
und wahrhaftiger an und kennen durch Gewohnheit bei sich nur gute Motive:
die anderen sehen sie nicht, ihr Auge ist dafür blind. — Gesetzt, man setzte
ihnen ein neues Auge ein und machte sie mit sich unzufrieden: nun, so mehrte
man den allgemeinen Jammer. Die Handlungen blieben dieselben in ihren Wir-
kungen für Andere, und somit wäre es eine überflüssige Menschenquäle-
rei. Diese will das Christenthum.“ In diesem Sinne hat Hermann Lüdemann
in seiner Anthropologie des Apostels Paulus - nach N. im Brief an Overbeck
vom 19. 07.1880 „ein Meisterstück auf einem sehr schwierigen Felde“ (KSB 6/
KGB III/l, Nr. 41, S. 31, Z. 10) - mit Adolf Hausrath dem aus pharisäischem
Kontext stammenden Apostel Paulus „umgekehrten Pharisäismus“ attestiert
(Lüdemann 1872, 103, Fn.). JGB 135 scheint die Pharisäer gegen den allgegen-
wärtigen christlichen Hybris-Vorwurf zunächst in Schutz zu nehmen, aber doch
 
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