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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0466
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446 Jenseits von Gut und Böse

Wahrscheinlichkeit am wenigsten Glauben verdienen“. JGB 14, KSA 5, 28, 5-14
deklariert es gerade als eine erst keimende Erkenntnis, dass auch die Physik
nur eine „Welt-Auslegung und -Zurechtlegung“ bieten könne. Da sie aber „den
Glauben an die Sinne“ als Grundlage nehme, sei ihre Geltung größer, habe sie
damit doch „Augenschein und die Handgreiflichkeit für sich: das wirkt auf ein
Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack bezaubernd, überredend, überzeu-
gend“. Der „Sensualismus“ sei eben „ewig volksthümlich[..]“. Offenkundig trat
N. in JGB 14 als Kritiker dieser populären Sinnengewissheit und ihres Augen-
scheins auf. Vgl. auch NK 26, 5-15 u. Dellinger 2012c, 161-164.
Mit „Augenschein der Wahrheit“ wird gelegentlich der fachphilosophische
Terminus der apparentia veritatis oder der namentlich bei Nicolas Malebranche
sehr geläufigen apparence de la verite übersetzt, dem zufolge etwas wie wahr
wirkt, ohne damit aber wirklich wahr sein zu müssen (vgl. als explizites Bei-
spiel dieser Übersetzung des lateinischen Begriffs beim Probabilisten Honore
Tournely die Ausführung bei Gass 1886, 2/1, 256: „Dem Menschen aber kann
es begegnen, dass er sich auf ein Mittleres hingewiesen sieht, welches, ohne
als unfehlbar aufzutreten, sich dennoch hören lässt und den Augenschein der
Wahrheit (apparentia veritatis) soweit für sich hat, um für annehmbar zu gel-
ten.“). Die französische Fassung apparence de la verite hat sich N. in einem
Exzerpt aus Custines Memoires et voyages in NL 1884, KSA 11, 25[55], 24,15 mit
„Anschein der Wahrheit“ übersetzt (bei Custine 1830, 2, 380 lautet der Pas-
sus: „je trouve dans ses recits Vapparence de la verite, l’illusion de la realite,
plus que la verite meme“ - „ich finde in seinen [sc. Walter Scotts] Erzählungen
den Anschein der Wahrheit, die Illusion der Wirklichkeit, mehr als die Wahr-
heit selbst“). Zur Ambiguität des Augenscheins in JGB 134 siehe auch NWB 1,
219.

135.
96, 19-21 Der Pharisäismus ist nicht eine Entartung am guten Menschen: ein
gutes Stück davon ist vielmehr die Bedingung von allem Gut-sein.] Die erste Fas-
sung in NL 1882, KSA 10, 3[1]31, 57, 9f. lautet schon ähnlich: „Der Pharisäismus
ist nicht eine Entartung an den guten Menschen, sondern eine Bedingung von
deren Gut-Sein.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]31, 57, 9f. Ursprünglich lautete der Text
nach KGW VII 4/1, 62: „Der Pharisäismus ist nicht eine Entartung, sondern
eine Bedingung der ,Guten“4.) In dieser Sentenzen-Sammlung ist der Habitus
des Pharisäers auch sonst gelegentlich Thema: „Der Haß gegen das Böse ist
der Prunkmantel, mit dem der Pharisäer seine persönlichen Antipathien ver-
kleidet.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]351, 95, 23 f.) Dass ,,[d]ie Guten als die Pharisäer“
zu gelten hätten, wird in NL 1882, KSA 10, 1[34], 18, 17 und analog in NL 1882,
 
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