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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0497
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Stellenkommentar JGB 167, KSA 5, S. 101-102 477

stellte demgegenüber „Mund“ und „Maul“ noch gemeinsam der lügenden Zun-
ge gegenüber: „Man lügt mit der Zunge, aber mit dem Munde und Maule sagt
man die Wahrheit — so urtheilt der Physiognomiken“ Diese Opposition bleibt
auch erhalten in NL 1883, KSA 10, 12[1]88, 390, 21 f.: „Man lügt mit der Zunge,
aber mit dem Munde und Maule sagt man trotzdem die Wahrheit.“ Die Form
einer Aufforderung nimmt die Überlegung dann in NL 1883, KSA 10, 22[3], 627,
12-14 an: „Hört nicht, was sie sagen — aber seht ihr Maulwerk an! Mit der
Zunge lügen sie vielleicht, mit dem Munde sagen sie doch die Wahrheit!“ Eine
gestrichene Vorstufe zu 3[1]422 hatte hingegen gelautet: „Man lügt öfter mit
dem Auge als mit der Zunge“ (KGW VII 4/1, 104).
Die in dieser Keimzelle von JGB 166 bemühte Metapher vom lügenden Auge
ist in der dichterischen Sprache des 19. Jahrhunderts recht beliebt: „In der höh-
ren Schreibart: sein Auge lügt Fröhlichkeit, aber in seinem Herzen wohnt Miß-
vergnügen.“ (Krünitz 1807, 81, 659) Die in der Druckfassung postulierte Diffe-
renz von Mund und Maul ist schon in Luthers Übersetzung von Sprüche 13, 3
greifbar: „Wer seinen Mund bewahret, der bewahret sein Leben; wer aber mit
seinem Maul heraus fährt, der kommt in Schrecken.“ (Die Bibel: Altes Testa-
ment 1818, 638) In Psalm 50, 19 ist allerdings nicht der Mund, sondern das
Maul mit der Lüge liiert: „Dein Maul lässest du Böses reden, und deine Zunge
treibet Falschheit.“ (Die Bibel: Altes Testament 1818, 580) Zur Interpretation
von JGB 166 siehe Häntzschel-Schlotke 1967, 98.
167.
102, 2f. Bei harten Menschen ist die Innigkeit eine Sache der Scham — und
etwas Kostbares.] Da die erste Fassung in NL 1882, KSA 10, 3[1]418, 104, 6f.
von „herzlosen“ statt „harten Menschen“ handelte, ist dort eine kritische Fär-
bung viel offenkundiger: „Nur bei herzlosen Menschen ist die Innigkeit ächt
und beinahe eine Sache der Scham.“ (KGW VII 4/1, 103 vermerkt zu dieser
Fassung, dass sie von N. durchgestrichen worden sei und dass unter „herzlo-
sen“ mit Bleistift „harten“ stehe.)
Der Begriff der Innigkeit, der aus dem religiösen Kontext der Mystik und
des Pietismus stammt, hat sich spätestens bei Lessing in der allgemeinen
Kunst- und Literaturtheorie einen Platz verschafft, und zwar um den Ursprung
künstlerischer Produktivität zu erfassen. In Lessings Übersetzung Das Theater
des Herrn Diderot, die N. 1879 erworben hat, heißt es: „Die Dichter, die Schau-
spieler, die Musiker, die Mahler, die Sänger von der ersten Classe, die grossen
Tänzer, die zärtlichen Liebhaber, die wahren Andächtigen, alles dieses feurige
und enthusiastische Volk, empfindet sehr lebhaft und überlegt sehr wenig. /
Sie werden nicht durch Regeln, sondern durch etwas ganz anders, das weit
unmittelbare [sic], weit inniger, weit dunkler und weit gewisser ist, geführet
 
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