478 Jenseits von Gut und Böse
und erleuchtet.“ (Diderot 1760, 1, 214 - Dorval und Ich, Zweyte Unterredung)
Die Innigkeit als Signatur der Kunst ist noch bei Schopenhauer Programm,
„wie denn Italiäner und Deutsche, trotz großer Verschiedenheit in vielen Stü-
cken, doch übereinstimmen im Gefühl für das Innige, Ernste und Wahre in
der Kunst und dadurch in Gegensatz treten zu den Franzosen, welchen jenes
Gefühl ganz abgeht“ (Schopenhauer 1873-1874, 6, 635). Das Abstraktum „In-
nigkeit“ kommt in N.s Werken abgesehen von JGB 167 nur noch in MA II VM
98, KSA 2, 417, 5; MA II VM 316, KSA 2, 507, 5 u. MA II WS 224, KSA 2, 655, 19
vor - auch an diesen Stellen geht es nicht um eine Verteidigung der Innigkeits-
ästhetik. In der Druckfassung von JGB 167 entfällt entsprechend auch das Epi-
theton „ächt“ der Vorstufe, da sich Innigkeit offensichtlich nicht mehr als
falsch oder echt unterscheiden lässt, sondern einfach auf einen bestimmten
Gefühlszustand verweist.
168.
102, 5 f. Das Christenthum gab dem Eros Gift zu trinken: — er starb zwar nicht
daran, aber entartete, zum Laster.] Vgl. NL 1882, KSA 10, 3[1]417, 104, lf.: „Das
Christenthum vergiftete den Eros: er starb zwar nicht daran, aber entartete zum
,Laster4.“ Ursprünglich lautete eine erste Fassung: „Das Schmutzige, Verdorbe-
ne und Verderbende ist in die erotischen Empfindungen erst durch das Chris-
tenthum gebracht worden hineingewachsen: seine Erfindung war - ,das Las-
ter4“ (KGW VII 4/1, 103). Der Gedanke setzt Überlegungen aus M 76 fort, wo-
nach die christliche „Verteufelung des Eros einen Komödien-Ausgang
bekommen“ habe, nämlich dadurch dass „der ,Teufel4 Eros [...] allmählich den
Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden“ sei, „Dank der
Munkelei und Geheimthuerei der Kirche in allen erotischen Dingen: sie hat
bewirkt, bis in unsere Zeiten hinein, dass die Liebesgeschichte das einzi-
ge wirkliche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist“ (KSA 3, 73, 29-74,
3). Hier ist es also gerade das Christentum, das ganz entgegen der eigenen
Absichten, die Sexualität zu unterdrücken, dafür sorgte, dass der Eros „in einer
dem Alterthum unbegreiflichen Übertreibung“ (KSA 3, 74, 3 f.) einen Stellen-
wert erhielt und bis in die Gegenwart bewahrt habe, der anderen Kulturen -
die ohne Eros-Verdrängung ausgekommen waren - völlig fremd bleibe. JGB 168
und die dazugehörigen Notate vereinseitigen diesen differenzierten Befund, in-
dem sie die Möglichkeit einer historischen Pointe - nämlich eines schließli-
chen Triumphes des ursprünglich Verdrängten - ausblenden und nur beim
Vorwurf stehen bleiben, „das“ Christentum habe den Eros zum „Laster“ herab-
gewürdigt. In N.s Spätwerk sollte der Begriff des „Lasters“ umgeprägt und das
Christentum selbst gerade wegen seiner Verachtung des Geschlechtlichen da-
mit belegt werden, vgl. z. B. NK KSA 6, 307, 6-13.
und erleuchtet.“ (Diderot 1760, 1, 214 - Dorval und Ich, Zweyte Unterredung)
Die Innigkeit als Signatur der Kunst ist noch bei Schopenhauer Programm,
„wie denn Italiäner und Deutsche, trotz großer Verschiedenheit in vielen Stü-
cken, doch übereinstimmen im Gefühl für das Innige, Ernste und Wahre in
der Kunst und dadurch in Gegensatz treten zu den Franzosen, welchen jenes
Gefühl ganz abgeht“ (Schopenhauer 1873-1874, 6, 635). Das Abstraktum „In-
nigkeit“ kommt in N.s Werken abgesehen von JGB 167 nur noch in MA II VM
98, KSA 2, 417, 5; MA II VM 316, KSA 2, 507, 5 u. MA II WS 224, KSA 2, 655, 19
vor - auch an diesen Stellen geht es nicht um eine Verteidigung der Innigkeits-
ästhetik. In der Druckfassung von JGB 167 entfällt entsprechend auch das Epi-
theton „ächt“ der Vorstufe, da sich Innigkeit offensichtlich nicht mehr als
falsch oder echt unterscheiden lässt, sondern einfach auf einen bestimmten
Gefühlszustand verweist.
168.
102, 5 f. Das Christenthum gab dem Eros Gift zu trinken: — er starb zwar nicht
daran, aber entartete, zum Laster.] Vgl. NL 1882, KSA 10, 3[1]417, 104, lf.: „Das
Christenthum vergiftete den Eros: er starb zwar nicht daran, aber entartete zum
,Laster4.“ Ursprünglich lautete eine erste Fassung: „Das Schmutzige, Verdorbe-
ne und Verderbende ist in die erotischen Empfindungen erst durch das Chris-
tenthum gebracht worden hineingewachsen: seine Erfindung war - ,das Las-
ter4“ (KGW VII 4/1, 103). Der Gedanke setzt Überlegungen aus M 76 fort, wo-
nach die christliche „Verteufelung des Eros einen Komödien-Ausgang
bekommen“ habe, nämlich dadurch dass „der ,Teufel4 Eros [...] allmählich den
Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden“ sei, „Dank der
Munkelei und Geheimthuerei der Kirche in allen erotischen Dingen: sie hat
bewirkt, bis in unsere Zeiten hinein, dass die Liebesgeschichte das einzi-
ge wirkliche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist“ (KSA 3, 73, 29-74,
3). Hier ist es also gerade das Christentum, das ganz entgegen der eigenen
Absichten, die Sexualität zu unterdrücken, dafür sorgte, dass der Eros „in einer
dem Alterthum unbegreiflichen Übertreibung“ (KSA 3, 74, 3 f.) einen Stellen-
wert erhielt und bis in die Gegenwart bewahrt habe, der anderen Kulturen -
die ohne Eros-Verdrängung ausgekommen waren - völlig fremd bleibe. JGB 168
und die dazugehörigen Notate vereinseitigen diesen differenzierten Befund, in-
dem sie die Möglichkeit einer historischen Pointe - nämlich eines schließli-
chen Triumphes des ursprünglich Verdrängten - ausblenden und nur beim
Vorwurf stehen bleiben, „das“ Christentum habe den Eros zum „Laster“ herab-
gewürdigt. In N.s Spätwerk sollte der Begriff des „Lasters“ umgeprägt und das
Christentum selbst gerade wegen seiner Verachtung des Geschlechtlichen da-
mit belegt werden, vgl. z. B. NK KSA 6, 307, 6-13.