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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0499
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Stellenkommentar JGB 168, KSA 5, S. 102 479

Die kritische Sicht auf die christliche Sexualmoral findet sich in N.s Lektü-
ren gelegentlich zum Ausdruck gebracht, prominent etwa in Leckys Sittenge-
schichte Europas, die die mit dem Mönchtum zum Durchbruch gekommene
„asketische Richtung“ für „eine der beklagenswerthesten in der Sittenge-
schichte der Menschheit“ hält: „Ein abschreckender, schmutziger, ausgemer-
gelter, unwissender, unpatriotischer und gefühlloser Wahnsinniger, der sein
Leben in einer langen Uebung unnützer und grausamer Selbstpein verbrachte
und vor den schauderhaften Phantomen seines Irrsinnes erbebte, war das Ideal
von Völkern geworden, welche die Schriften Plato’s und Cicero’s und das Le-
ben eines Sokrates oder Cato gekannt hatten.“ (Lecky 1879, 2, 87) Die Mönche
hatten demnach „vor Allem“ ein Ziel, nämlich „den Geschlechtstrieb zu unter-
drücken, dies schien ihnen die Bestimmung des Menschen. Ein Kampf mit der
Natur war es, den sie unternahmen, ein Kampf gegen jedes, auch das unschul-
digste Vergnügen, welches sie, nach ihrem Begriffe von der angeborenen Ver-
derbtheit der menschlichen Natur, zum Laster stempelten.“ (Ebd., 99) Entspre-
chend habe sich in der „Strafgesetzgebung der Kirche“ der „grösste Theil ihrer
Verordnungen [...] auf Sünden der Unkeuschheit“ bezogen (ebd., 264). So
scharf Leckys Ablehnung der kirchlichen Sexualmoral auch ausfällt, rechnet
er es den „Asketen“ doch als Verdienst an, „den Menschen eine tiefe und dau-
ernde Ueberzeugung von der Wichtigkeit der Keuschheit beigebracht zu ha-
ben“ (ebd., 268). Leckys Interesse bestand vornehmlich in der Verteidigung der
von den christlichen Asketen beeinträchtigten Würde der bürgerlichen Ehe:
„Der Begattungstrieb, welcher den edlen Zweck hat, die Verwüstungen des To-
des wieder gut zu machen [...], wurde immer als Folge von dem Sündenfalle
der ersten Menschen, und die Ehe fast ausschliesslich von ihrer niedrigsten
Seite betrachtet. Die durch sie wachgerufene zärtliche Liebe, ihr Gefolge von
heiligen und schönen häuslichen Tugenden blieben beinahe ganz und gar äus-
ser Beachtung.“ (Ebd.)
Papst Benedikt XVI. hat in seiner Enzyklika Deus Caritas est (I 3) vom
25. Dezember 2005 nicht nur zum ersten Mal in einem päpstlichen Lehrschrei-
ben N. herangezogen, sondern ausführlich diskutiert, und zwar ausdrücklich
JGB 168 zitierend: „Dieses sprachliche Beiseiteschieben von Eros und die neue
Sicht der Liebe, die sich in dem Wort Agape ausdrückt, zeigt zweifellos etwas
Wesentliches von der Neuheit des Christentums gerade im Verstehen der Liebe
an. In der Kritik am Christentum, die sich seit der Aufklärung immer radikaler
entfaltet hat, ist dieses Neue durchaus negativ gewertet worden. Das Christen-
tum — meinte Friedrich Nietzsche — habe dem Eros Gift zu trinken gegeben;
er sei zwar nicht daran gestorben, aber zum Laster entartet. Damit drückte der
deutsche Philosoph ein weit verbreitetes Empfinden aus: Vergällt uns die Kir-
che mit ihren Geboten und Verboten nicht das Schönste im Leben? Stellt sie
 
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