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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0539
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Stellenkommentar JGB 192, KSA 5, S. 113 519

eine grössere Leistung: hier ist also in höherem Grade dem Princip des gerings-
ten Kraftaufwandes genügt. Und wirklich wählt die Seele innerhalb des theore-
tischen Denkens nur da, wo es ihr nicht gelingt, Unbekanntes auf Bekanntes,
Unbegriffenes auf Begriffenes zurückzuführen, nothgedrungen den in seinem
Resultat zweifelhaften, aber allein noch offen stehenden Ausweg: zu verges-
sen oder zu ignoriren.“ Das dieser (prinzipiell ignorativen) Erkenntnisprozedur
zugrunde liegende Interesse ist das der Beruhigung, der Sekurität: „Endlich
gewährt ein System durch seine wirkliche oder vermeintliche Vollständigkeit
zugleich den Nutzen der Ruhe gegenüber allen etwa noch möglichen Special-
problemen, und durch seine wirkliche oder vermeintliche Geschlossenheit die
Vortheile des Sicherheitsgefühles, indem jede Folgerung aus der zugrundelie-
genden Centralvorstellung dazu dient, rückwirkend diese zu befestigen, Alles
mit Allem zusammenhängt, Alles einander trägt und unterstützt.“ (Avenarius
1876, 6; zur Sprache ebd., 11-13; zum „Princip des kleinsten Aufwandes von
Kraft“ bei N. siehe NK KSA 6, 33, 9f.)
Während die oben mitgeteilte Vorarbeit von 1881 noch ganz im Avenarius-
Schema möglichst weitgehender Vermeidung von Kraftaufwand zur Erklärung
der defizitären (sinnlichen) Erkenntnis verbleibt - wenngleich durch das über
die Seite geschriebene „Oder? -“ schon kritisch perspektiviert -, nimmt die
Argumentation in der Druckfassung von JGB 192 trotz der „Affekte der Faul-
heit“ (113, 27) eine jähe Wendung (die „Affekte der Faulheit“ greift übrigens
Gaston Bachelard von N. auf, vgl. Brusotti 2012a, 60). Am Ende steht nicht das
Interesse an Ruhe und Sicherheit als Motivationsgrund, sondern vielmehr das
Schöpferisch-Umbildende, das nicht dem Prinzip des geringstmöglichen Kraft-
aufwands gehorcht: „man ist viel mehr Künstler als man weiss“ (114, 8 f.); „wir
erdichten uns den grössten Theil des Erlebnisses“ (114, 3 f.). Das wiederum er-
innert nicht nur an das N. wohlbekannte Konzept der „Begriffsdichtung“ bei
Friedrich Albert Lange (vgl. z. B. Lange 1876-1877, 2, 540 u. dazu ausführlich
NWB 1, 251-254), sondern konterkariert überhaupt die Vorstellung, dass
menschliches Handeln in erster Linie von einer (Kraft-)Sparsamkeitsökonomie
bestimmt werde: In N.s späten Werken steht dieser Sparsamkeit vielmehr die
Exuberanz der Macht gegenüber. Macht wird als selbstverschwendend und zu-
gleich als schöpferisch gedacht. Wenn JGB 192 scheinbar moralisierend zu be-
denken gibt: „wir sind von Grund aus, von Alters her — an’s Lügen ge-
wöhnt“ (114, 6 f.), dann zielt das nicht nur auf den provokatorischen Effekt,
die vorgeblich unschuldige »Wahrnehmung4 mit moralisch kontaminierter Ter-
minologie zu denunzieren. Vielmehr soll dies vor allem zeigen, dass Menschen
schon bei vermeintlich simplen Erkenntnisakten weltgestaltend, weltkonstitu-
ierend tätig sind, was mit dem Beispiel des in ein Gesicht hineingelesenen Mie-
nenspiels illustriert wird (114, 9-16).
 
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