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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0538
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518 Jenseits von Gut und Böse

der Wissenschaften zugeht, das giebt Licht für die geschichtlichen Vorgänge
der Erkenntniß. Die Hypothesen, die Erdichtungen, das schnelle Glauben sind
auch hier das Ursprüngliche. Eine treue ,Sinneswahrnehmung‘ zb. des
Auges ist etwas sehr Spätes. Es ist viel leichter, auf einen gegebenen Anlaß
hin ein schon öfter erzeugtes Bild wieder zu erzeugen (die Phantasie baut
mit alten eingeübten Mechanismen, und ihr Bauen selber am liebsten auf ge-
wöhnte Weise). Es ist peinlich und mühevoll, etwas neues zu sehen und zu
hören: meistens legen wir uns in einer fremden Sprache sofort die gehörten
Laute nach den uns allein bekannten Worten zurecht zb. ,Armbrust4 hörte der
Deutsche bei ,Arcubalista‘. Fremde Musik hören wir schlecht. Das Neue findet
uns feindlich und widerwillig. Unsere Sinnesvorgänge werden mit Liebe
Haß Furcht usw. gemacht - schon hier herrschen die Affekte: auch Faulheit
usw. - Zwischen einer Bewegung und einer Empfindung giebt es nicht
Ursache und Wirkung, sondern letztere ist eine Auslösung von eigner
Kraft, und erstere giebt einen Anstoß dazu - nicht meßbares Verhältniß. Die
Geschichte der Erkenntniß beginnt mit der Geschichte der Dichterei. Es
wäre möglich, daß (sich} Vorgänge jetzt in unseren Sinnen abspielten, die Er-
dichtungen in die Natur tragen (Farben? Harmonien?) Diese ganzen Wesen,
diese Bauern zb. werden von uns schnell hinphantasirt und nicht genau ge-
sehen: ebensowenig eine Seite genau gelesen: der meiste Sinn wird erra-
fften und meistens wohl falsch gerathen (beim Schnelllesen) Wirklich zu
sagen, was um sie geschehn ist oder gar in ihnen vorgeht, vermögen
die Wenigsten.“ N. schrieb über die ganze Seite noch das Wort: „Oder? -“
Wie Vivarelli 2004, 63 f. beobachtet hat, konvergiert die zentrale wahrneh-
mungstheoretische Hypothese von JGB 192, wonach wir das Gewohnte zu se-
hen und uns die Wahrnehmung nach unseren Erwartungen zurechtzumachen
pflegen, mit Überlegungen, die Richard Avenarius in seiner Habilitationsschrift
Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmasses
angestellt hat. Zwar retournierte N. dieses Werk bereits 1876 seinem Buchhänd-
ler (NPB 716), jedoch konnte die Forschung verschiedentlich nachweisen, dass
Nachlassnotate noch der 1880er Jahre sich darauf beziehen (vgl. Schmidt 1988,
466; Riccardi 2010, 347 f.). Nach Avenarius 1876, 9f. nimmt die „Seele“ „die
/10/ gebotene Vorstellung auf, verwandelt aber das, was an derselben das Un-
gewohnte ist, in Gewohntes. Mit anderen Worten: sie führt, mit Hülfe der Asso-
ciationen, das Neue auf Altes, das Fremde auf Geläufiges, das Unbekannte auf
Bekanntes, das Unbegriffene auf solches zurück, was bereits als Begriffenes
unser geistiges Besitzthum bildet. Jetzt erfordert das Denken einer neu hinzu-
getretenen Vorstellung keinen erheblicheren Kraftaufwand, denn sie denkt es
vermittelst der altgewohnten Vorstellungen — und indem sie mit ihren ge-
wöhnlichen Vorstellungen es denkt, vollzieht sie mit den gewöhnlichen Mitteln
 
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