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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0574
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554 Jenseits von Gut und Böse

Versuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten“ (126, 18 f.). Im Fortgang des
Textes verwandeln sich diese Philosophen dann in „Führer“ (126, 26), deren
„Nothwendigkeit“ (127, 3) „in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen“ (127,
13f.) postuliert wird, denn wie sonst sollte man die„Gesammt-Entartung
des Menschen“ (127, 29f.), die „Verthierung des Menschen zum Zwergthiere
der gleichen Rechte und Ansprüche“ (127, 34-128, 1) verhindern?
Frappierend wirken beim ersten Lesen der Verkündigungston und der Ver-
kündigungsgehalt von JGB 203 im Vergleich zum Forschungsprogramm, das
JGB 186 formuliert und für das Fünfte Hauptstück vorgibt, nämlich die unter-
schiedlichsten Moralgestaltungen zu ergründen: Keine Spur mehr von der for-
schenden Vorsicht, mit der der Naturhistoriker unterschiedliche Moralen ana-
lysiert, stattdessen die aus Leidensnot des „Wir“ geborene Flammenrede für
die Züchtung höherer Menschen mittels einer neuen Moral, die nicht Herden-
moral sein soll (wie immer es dann um die Konkretion von „Zucht und Züch-
tung“ bestellt sein mag). Gibt JGB 186 die „Philosophen allesammt“ mit ihrem
„steifen Ernst[.]“ (105, 21 f.) noch der Lächerlichkeit preis, gerade weil sie sich
in Verkündigungspose werfen, so dupliziert das „Wir“ von JGB 203 diese Pose
und will ausgerechnet die „neuen Philosophen“ als Initiatoren einer
neuen Moral, ja eines neuen, nicht bloß zufälligen Menschen installieren, als
ob nur ,die‘ Philosophen, die sich in der Vergangenheit der Erfindung und Dif-
fusion herdenmoralischer Ideen schuldig gemacht haben, die Scharte auswet-
zen und als Heilsbringer aufwarten könnten. Der im Fünften Hauptstück sonst
obwaltenden Geste der Historisierung verweigert sich das „Wir“ hier konse-
quent - unter dem Druck seiner Leidensnot an Egalisierung und Demokratisie-
rung wird es fanatisch.
Während die Aversion gegen die allgemeine Vermittelmäßigung, gleiche
Rechte und freie Formen der Vergesellschaftung aus den vorangegangenen Ab-
schnitten schon sattsam bekannt ist, überrascht in JGB 203 vor allem, mit wel-
cher Vehemenz gegen die geschichtliche Kontingenz angeschrieben wird: Die
„neuen Philosophen“ sollen umwertend „jener schauerlichen Herrschaft des
Unsinns und Zufalls, die bisher ,Geschichte4 hiess, ein Ende [...] machen“ (126,
19-21), und mit ihr der „ungeheuerliche^] Zufälligkeit [...], welche bisher in
Hinsicht auf die Zukunft des Menschen ihr Spiel spielte“ (127,12-14). Die „Füh-
rer“ der Zukunft sollen den geschichtlichen Raum von einem Reich des Zufalls
in ein Reich der Notwendigkeit verwandeln - in eklatantem Widerspruch zu
dem im Fünften Hauptstück umständlich geführten Nachweis, dass alle Dinge
und besonders Moralen entweder als historisch kontingent oder als Produkte
kausaler Entwicklungen etwa in der Logik der Furcht (vgl. JGB 201) zu betrach-
ten seien, es aber keine womöglich universal-moralischen An-sich-Notwendig-
keiten gebe. Trotz dieses Widerspruchs ist die Stoßrichtung unmissverständ-
 
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