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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0575
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Stellenkommentar JGB 203, KSA 5, S. 126 555

lieh: Das Leiden des „Wir“ ist wesentlich ein Leiden an der Kontingenz, das
mit dem eigenen, in alle Zukunft projizierten Herrschaftsanspruch über die Ge-
schichte kompensiert wird. Dieser Anspruch kann sich selbst als Ausdruck ei-
nes dezidierten Willens zur Macht verstehen, der über den möglichen Ein-
wand, auch aus einer Naturgeschichte der Moralen folge nichts Normatives,
leichthändig hinwegspielt.
Der Pathosüberschuss in JGB 203 intendiert einen moralischen Klimawech-
sel. Offensichtlich soll jetzt künstlich, unter den Gewächshaus-Bedingungen
der eigens proklamierten Umwertung, ein Klima geschaffen werden, in dem
„der »tropische Mensch“4 (JGB 197, KSA 5,117, 24) gedeiht, der bis dahin einfach
so, ohne willentliches Zutun, gewachsen war. Dennoch bleibt in JGB 203 be-
merkenswert unklar, was für Menschen oder Übermenschen eigentlich gezüch-
tet werden sollen (vgl. Tongeren 1989, 74-76). Trotz ihrer geschichtsbestim-
menden Quasi-Göttlichkeit sind die künftigen „Führer“ wenigstens nicht zur
creatio ex nihilo befähigt. Dennoch wird man JGB 203 schwerlich als bloße Auf-
forderung zur Selbstzucht und Selbstzücht(ig)ung, also zu einem philoso-
phisch-asketischen Habitus im Umgang mit sich selbst verharmlosen können.
Immerhin kehrt JGB 203 am Ende und damit am Ende des Fünften Hauptstücks
nach Bekenntnis- und Proklamationsreden wieder zur Offenheit zurück: „Wer
diese Möglichkeit einmal bis zu Ende gedacht hat, kennt einen Ekel mehr, als
die übrigen Menschen, — und vielleicht auch eine neue Aufgabe!....“ (128,
2-5). Karl Jaspers notierte als Quintessenz von JGB 203 an den Rand: „Neue
Philosophen / Aufgabe: Züchtung des Menschen“ (Nietzsche 1923, 137). Vgl.
zur Interpretation auch Stegmaier 2013a.
126, 5-8 wir, denen die demokratische Bewegung nicht bloss als eine Verfalls-
Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-
Form des Menschen gilt] Vgl. NK 182, 11-15.
126, 32 Umwerthung der Werthe] In JGB 46 gilt das Christentum ausdrücklich
als „Umwerthung aller antiken Werthe“ (KSA 5, 67, 9 f., vgl. GM I 8, KSA 5, 269,
18-21). In JGB 203 wird das Gegenprojekt mit fast demselben Titel bedacht,
was die Strukturanalogie beider Prozeduren deutlich hervortreten lässt: Das
Projekt, das in NL 1884, KSA 11, 26[259], 218 als „Versuch der Umwerthung aller
Werthe“ im Untertitel eines nie geschriebenen Werkes „Philosophie der ewigen
Wiederkunft“ explizit gemacht wird, nimmt sich die christliche Moral-Revoluti-
on zum Muster, wenngleich in der Absicht, die genau gegenteilige Wertehierar-
chie zu etablieren. Der hintere Buchumschlag der Erstausgabe von Jenseits von
Gut und Böse kündigte ein Werk N.s unter dem Titel „Der Wille zur Macht.
Versuch einer Umwerthung aller Werthe“ (KGW VI 2, 257) an (vgl. GM III 27,
KSA 5, 409). Ende 1888 wurde mit dem Antichrist die „Umwerthung aller Wer-
 
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