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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0601
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Stellenkommentar JGB 208, KSA 5, S. 139-140 581

schliessen müsste, gleichermaassen bedrohlich zu werden, nämlich Einen
Willen zu bekommen, durch das Mittel einer neuen über Europa herrschen-
den Kaste, einen langen furchtbaren eigenen Willen, der sich über Jahrtausende
hin Ziele setzen könnte: — damit endlich die langgesponnene Komödie seiner
Kleinstaaterei und ebenso seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu
einem Abschluss käme] Politische Verhältnisse werden in den Kategorien der
Physik (vgl. NK 139, 25-30) beschrieben: Baut sich eine Kraft, sprich: der russi-
sche Machtwille auf, provoziert sie eine Gegenkraft. Dennoch verzichtet 140,
2-11 darauf, eine geschichtliche Notwendigkeit zu postulieren und bleibt statt-
dessen im Konjunktiv II: Das „Ich“ artikuliert seine Wünsche. Ob es freilich
ein zuverlässiges und stabiles Ich ist, steht dahin. Zum Verhältnis von Europa
und Asien in JGB 208 siehe Large 2013, 193-199.
140,11-13 Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste Jahrhundert
bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft, - den Zwang zur grossen Politik] So
prominent der Begriff der „grossen Politik“ in der N.-Forschungsliteratur auch
ist, so vage bleiben doch die Stellen in N.s Werken, aus denen man eine positi-
ve Programmatik großer Politik meinte herauslesen zu sollen, namentlich JGB
208 und EH Warum ich ein Schicksal bin 1, KSA 6, 366, 16 f. (vgl. NK KSA 6,
84, 13 und NK KSA 6, 360, 17-19 sowie kritisch zur Überschätzung der großen
Politik bei N. Brobjer 2008c, 215 f.). Auch Bismarck hat sich des Ausdrucks
„große Politik“ gerne bedient, vgl. NK 181, 15. Immerhin hat bereits JGB 203,
KSA 5,126 Andeutungen darüber gemacht, wie eine andere große Politik ausse-
hen könnte, nämlich als Versuch der Menschenzüchtung (heute würde man
sagen: der Biopolitik), um so die geschichtliche Kontingenz nach und nach
auszuschalten (vgl. dazu Marti 2000, 249; Ottmann 1999, 239-292, 437 und
443). Es hat den Anschein, hier werde mit der Selbstermächtigung des Men-
schen zum Herrn der Geschichte der gewaltsame Gestus der Metaphysik repro-
duziert, so dass ein zentrales Motiv dieser Metaphysik, nämlich die Ausschal-
tung der Kontingenz, unversehrt erhalten bleiben kann.
Indes tut man gut daran, die Verlautbarungen von JGB 203 und JGB 208
nicht einfach als N.s Bekenntnisse für bare Münze zu nehmen: Sichtlich han-
delt es sich um Texte, die in bestimmten Kontexten bestimmte radikale Optio-
nen experimentell erproben. Das wird in JGB 208 mit dem Sphärenwechsel ins
Politische besonders deutlich. Der Effekt dieser textuellen Operation ist bei Le-
sern, die skeptischen Positionen zuneigen, weil sie dies für die angemessene
Konsequenz aus der Loslösung von den alteuropäisch-christlichen Wertsetzun-
gen halten, eine tiefgreifende Verunsicherung. JGB 208 will die Nicht-Angemes-
senheit der resignativen Skepsis für die Lösung der eminenten Zeitprobleme
sinnenfällig machen. Freilich müssen dazu die Probleme erst konstruiert wer-
den, denen die schwache Skepsis nicht gewachsen sei - eben die europäische
 
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