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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0664
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644 Jenseits von Gut und Böse

(icaöapcnc;) von diesen Affekten bewirkt werde. Auf diesen locus classicus kam
N. immer wieder zurück - vgl. z. B. NK KSA 1, 109, 19-22 u. NK KSA 6, 174, 4-
7 - ohne ihm stets die subversive Note von 166, 9-13 zu geben, wonach das
Lustmoment im Mitleiden aus der Grausamkeit resultiert. Einen Vorgeschmack
auf diesen Gedanken gab bereits Lessing im 79. Stück der Hamburgischen Dra-
maturgie vom 2. Februar 1768, als er von unseren Gefühlen für die Verfolgten
und Gebeutelten in Shakespeares Tragedy of King Richard the Third handelte:
„Die Königin, Elisabeth, die Prinzen, erregen diese nicht Mitleid? — / Um allem
Wortstreite auszuweichen: ja. Aber was ist es für eine fremde, herbe Empfin-
dung, die sich in mein Mitleid für diese Personen mischt? die da macht, daß
ich mir dieses Mitleid ersparen zu können wünschte? Das wünsche ich mir bei
dem tragischen Mitleid doch sonst nicht; ich verweile gern dabei, und danke
dem Dichter für eine so süße Qual“ (Lessing 1867, 6, 357).
166, 13-21 Was der Römer in der Arena, der Christ in den Entzückungen des
Kreuzes, der Spanier Angesichts von Scheiterhaufen oder Stierkämpfen, der Japa-
nese von heute, der sich zur Tragödie drängt, der Pariser Vorstadt-Arbeiter, der
ein Heimweh nach blutigen Revolutionen hat, die Wagnerianerin, welche mit aus-
gehängtem Willen Tristan und Isolde über sich „ergehen lässt“, — was diese Alle
geniessen und mit geheimnissvoller Brunst in sich hineinzutrinken trachten, das
sind die Würztränke der grossen Circe „Grausamkeit“.] Die in NK ÜK JGB 229
mitgeteilte Vorarbeit in KGW IX 4, W I 6, 19 zu dieser Stelle erinnert (Z. 18-28)
an Stellen, die N. bei Lecky 1873, 1, 235 f. mit Randstrichen markiert hat: „Fer-
ner, die Humanität scheint in der Theorie eine unveränderliche Tugend zu
sein, prüft man aber ihre Praxis, so findet man sie in ständiger Veränderung.
Stier- und Bärenhetzen, Hahnenkämpfe und unzählige Vergnügungen ähnli-
cher Art waren einst die Lieblingszeitvertreibe in Europa, wurden von allen,
sogar den gebildetsten und humansten Klassen gesucht, und wurden allge-
mein für vollkommen rechtmässig gehalten. Es ist bekannt, dass /236/ Men-
schen von ausgezeichnetstem Seelenadel sich daran ergötzten. Hätte Jemand
sie als Barbaren verschrieen, so würde seine Meinung nicht einfach als lächer-
lich, sondern als unbegreiflich angesehen worden sein. Es gab ohne Zweifel
keine Meinungsverschiedenheit über diesen Punkt.“ (Nachweis allerdings mit
falscher Bandangabe bei Rahden 2002b, 320.) In Leckys Text folgt eine lange
Fußnote, in der es u. a. heißt: „Wie Macaulay mit charakteristischer Antithese
sagt: ,Wenn die Puritaner das Stierhetzen unterdrückten, geschah es nicht, weil
es dem Stiere Schmerz machte, sondern weil es den Zuschauern Vergnügen
machte/ Der lange erfolglose Krieg, den die Päpste gegen das spanische Stier-
hetzen führten, bildet eine sehr interessante Episode in der Kirchengeschichte;
aber sein Ursprung war die Masse Menschen, die getödtet worden waren. Ein
alter Theologe erwähnt, dass in der Stadt Concha ein Stier, der sieben Men-
 
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