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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0663
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Stellenkommentar JGB 229, KSA 5, S. 165-166 6 43

wenigstens probehalber erklimmt. Spencers Thatsachen der Ethik gaben dafür
Hintergrundwissen (vgl. Orsucci 1996, 181-189): „Alle niedriger stehenden
Glaubensbekenntnisse sind von der Überzeugung durchdrungen, dass der An-
blick des Leidens für die Götter eine Freude sei. Da diese Götter sich von blut-
dürstigen Vorfahren ableiten, so hat sich ganz naturgemäss die Vorstellung
von ihnen herausgebildet, als ob sie ein Vergnügen daran fänden, Jemand
Schmerzen zuzufügen: als sie noch in diesem Leben herrschten, freuten sie
sich der Qualen anderer Wesen, und so glaubt man, der Anblick des Leidens
mache ihnen jetzt noch Freude. Solche Grundvorstellungen erhalten sich lange
fort. Wir brauchen blos die indischen Fakirs zu erwähnen, welche sich an Ha-
ken aufhängen, und die Derwische im Orient, die sich zerfleischen, um darzu-
thun, dass selbst in bereits ziemlich weit vorgeschrittenen Gesellschaften im-
mer noch Viele sich finden, welche glauben, dass die Erduldung von Qualen
göttliche Gunst verschaffe.“ (Spencer 1879, 30) Und allgemeiner: „Grausamkeit
viel eher als Güte ist charakteristisch für den Wilden und in vielen Fällen er-
scheint sie geradezu als Quelle grosser Befriedigung für ihn. Wenn es nun auch
unter den Civilisirten Manche gibt, bei denen dieses Merkmal der Wilden noch
fortbesteht, so ist doch Freude am Zufügen von Schmerzen nicht allgemein
verbreitet, und neben der grossen Zahl derer, die sich wohlwollend bezeigen,
stehen auch noch Solche, die ihre ganze Zeit und einen grossen Theil ihres
Vermögens menschenfreundlichen Zwecken aufopfern, ohne dabei an eine hier
oder dort zu erwartende Belohnung zu denken.“ (Ebd., 202, vgl. auch 265 f.)
Genau gegen eine solche zivilisatorische Selbstsicherheit, die Grausamkeit ge-
bändigt und überwunden zu haben, denkt JGB 229 an.
165, 29 f. „Milch der frommen Denkungsart“] Das ist die sprichwörtliche Ab-
wandlung einer Sentenz aus Wilhelm Teils berühmtem Monolog zu Beginn der
3. Szene im 4. Aufzug von Schillers gleichnamigem Drama, bevor der Titelheld
den Landvogt in der hohlen Gasse erschießt: „Ich lebte still und harmlos —
das Geschoss / War auf des Waldes Thiere nur gerichtet, / Meine Gedanken
waren rein von Mord — / Du hast aus meinem Frieden mich heraus / Ge-
schreckt; in gärend Drachengift hast du / Die Milch der frommen Denkart mir
verwandelt“ (Schiller 1844, 5, 107). Ebenfalls ironischen Gebrauch machte N.
von Schillers Wendung in NL 1886, KSA 12, 4[9], 183, 12-22.
166, 9-13 was im sogenannten tragischen Mitleiden, im Grunde sogar in allem
Erhabenen bis hinauf zu den höchsten und zartesten Schaudern der Metaphysik,
angenehm wirkt, bekommt seine Süssigkeit allein von der eingemischten Ingredi-
enz der Grausamkeit] Die Evokation des „tragischen Mitleids“ bezieht sich auf
die berühmte Stelle in Aristoteles’ Poetik 1449b 26-30, wonach durch „Mitleid“
(eAeoc;) und „Furcht“ (cpößoc;) beim Tragödienzuschauer eine „Reinigung“
 
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