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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0662
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642 Jenseits von Gut und Böse

(vgl. z. B. Deleuze 1973,152), unter welchen Umständen und bei welcher Umlen-
kung sie kulturschöpferisch zu werden vermag.
Eine Aufzeichnung in KGW IX 4, W I 6, 17, 34-44 u. 19, 2-46 u. 21, 2-12
folgt unmittelbar auf eine in NK ÜK JGB 230 mit geteilte Überlegung und lautet
in der unkorrigerten Ursprungsfassung: „Wer als Erkennender erkannt hat, daß
in und neben allem Wachsthum zugleich das Gesetz des Zugrundegehens wal-
tet, und daß unerbittliches Auflösen und Vernichten um des Schaffens selber
willen noth thut: der muß eine Art Freude an diesem Anblicke hinzulernen,
um ihn auszuhalten - oder er taugt fürderhin nicht mehr zur Erkenntniß. Das
heißt er muß einer verfeinerten Grausamkeit fähig sein und sich zu ihr mit
entschlossenem Herzen ausbilden. Steht seine Kraft noch höher da in der
Rangordnung der Kräfte, ist er selber einer der Schaffenden und nicht nur ein
Zuschauer, so genügt es nicht daß er der Grausamkeit beim Anblicke vieles
Leidens, Entartens, Vergehens fähig ist: ein solcher Mensch muß fähig sein mit
Genuß Wehe selber zu schaffen, er muß die Grausamkeit mit der Hand und
That und nicht blos mit den Augen des Geistes kennen. Die tugendhafte Heu-
chelei wird es nicht Wort haben wollen daß jede höhere Kultur zu einem guten
Theile auf der Ausbildung und Vergeistigung der Grausamkeit beruht, daß der
schmerzliche Genuß an der Tragödie gleich dem Genüsse an Stiergefechten,
Scheiterhaufen und Kämpfen der Arena, zur Grausamkeit gehört und daß fast
Alles, was heute am sogenannten tragischen Mitleiden angenehm wirkt, seine
Süßigkeit von der eingemischten Ingredienz der Grausamkeit bekommt. Es ist
eine plumpe Vorstellung daß der Genuß an der Grausamkeit blos dann entste-
hen soll wenn man einen Andern leiden sieht; es giebt vielmehr einen reichli-
chen und überreichlichen Genuß am eignen Leiden, am eignen Sich=Leiden-
Machen, zum Beispiel in allen Religionen welche vom Menschen Selbstver-
stümmelungen oder Bußkrämpfe oder Ascesen oder Zerknirschung des Gewis-
sens oder auch nur das feine sacrificio dell intelletto fordern, - sie überreden
ihn zu dem Allen durch die verführerischen Geheimnisse und Schauder der
gegen sich selber gewendeten Grausamkeit. Zuletzt erwäge man daß jeder Er-
kennende seinen Geist zwingt, wider den Hang des Geistes und meistens auch
wider die Wünsche seines Herzens zu arbeiten, nämlich dort Nein zu sagen wo
er bejahen und anbeten möchte, daß das tief und gründlich Nehmen selber
eine Art Widerspruch und Grausamkeit gegen den Grund=Willen des Geistes
ist, welcher zum Scheine und zu den Oberflächen hin will, daß also auch in
den geistigsten Thätigkeiten der Mensch als Künstler der Grausamkeit waltet.“
(Vgl. auch KGW IX 1, N VII1, 23 f.)
Das Verhältnis von Moral und Grausamkeit war bei N. spätestens von M
18, KSA 3, 30-32 an ein bestimmendes Thema, das in M 30, KSA 3, 39 f. wieder-
kehrte, während JGB 55 die „grosse Leiter der religiösen Grausamkeit“ (74, 2)
 
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