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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0667
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Stellenkommentar JGB 230, KSA 5, S. 166-167 647

chen, das Mannichfaltige zu vereinfachen, das gänzlich Widersprechende zu
übersehen oder wegzustossen: ebenso wie er bestimmte Züge und Linien am
Fremden, an jedem Stück „Aussenwelt“ willkürlich stärker unterstreicht, heraus-
hebt, sich zurecht fälscht. Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer „Er-
fahrungen“, auf Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen, — auf Wachsthum
also; bestimmter noch, auf das G efü h l des Wachsthums, auf das Gefühl der
vermehrten Kraft.] Der im ersten Satz in Anführungszeichen gesetzte „Grund-
willen des Geistes“ bezieht sich auf den Schluss von JGB 229, wonach jedes
„Tief- und Gründlich-Nehmen [...] eine Vergewaltigung, ein Wehe-thun am
Grundwillen des Geistes“ (167, 5-7) sei. Dieser Geist oder Grundwille ziele näm-
lich auf Oberflächlichkeit, auf den bloßen Schein - ein Aspekt, der in der Be-
handlung des gewöhnlich „Geist“ genannten Vermögens in JGB 230 erst in 168,
16-28 eingehender thematisiert wird, nachdem 167,11-29 die Tendenz zur Assi-
milation und Inkorporation herausgestellt hat. Damit steht der Text im Diskurs-
zusammenhang der zeitgenössischen Biologie und Physiologie, wie Orsucci
1996, 55 f. betont, der namentlich Carl von Nägelis Mechanisch-physiologische
Theorie der Abstammungslehre als eine Vorlage für den Anfang von JGB 230
geltend macht. Die von Orsucci 1996, 56 zitierten Textstellen (Nägeli 1884, 34
u. 40-43) benutzen den Begriff der Reihenbildung, den auch 167, TI f. bemüht.
Allerdings geht es bei Nägeli nicht um den ominösen Geist, sondern um das
(gleichfalls ominöse) Idioplasma, das auch nicht als eine dem Geist analoge
Instanz herrischer Weltaneignung verstanden wird. Als Quelle für die Geist-
Konzeption von JGB 230 erheblich relevanter dürfte Otto Liebmanns Zur Analy-
sis der Wirklichkeit gewesen sein. Liebmann verwahrt sich beispielsweise ge-
gen die Konzeption von John Locke: Dieser habe sich „mit seiner gravitätischen
Weitschweifigkeit über so viele Dinge verbreitet, aber in so wenige ver-
tieft“: „In der That aber ist dieser Geist ein organisches Gewächs, welches
zwar mit der Außenwelt in ununterbrochener Wechselwirkung steht und von
daher allen seinen Stoff entnimmt, dann aber diesen Stoff sich assimilirt, ein-
verleibt und in den specifischen Typus menschlicher Intelligenz hineinbringt.“
(Liebmann 1880, 444) Ist bei Liebmann die Oberflächlichkeit nur das Signum
von Lockes Geist, so in JGB 230 das Signum von Geist überhaupt, der zugleich
aber wie bei Liebmann als Kraft der Außenwelt-Einverleibung begriffen wird.
Damit ist dieser Geist in doppelter Hinsicht nicht an der möglichst adäquaten
Abspiegelung der Außenwelt interessiert: einerseits, weil er die Wirklichkeit
sich selbst und seinen eigenen Bedürfnissen anpassen will, andererseits, weil
ihm im Dienste der lebensförderlichen Einfachheit nur an der Oberfläche, dem
Schein gelegen ist, den er zur Not sogar mittels Täuschung aufrechterhält: Da-
mit kassiert JGB 230 zwar die seit Platon und Aristoteles geläufigen Vorstellun-
gen von Geist als einem natürlicherweise auf interesselose Erkenntnis ausge-
 
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