214 Zur Genealogie der Moral
Projektion der Herrschenden. Im Übrigen ist das ,Aushungern' nach GM I 16
offenkundig nicht gelungen.
286, 10-12 in Rom galt der Jude „des Hasses gegen das ganze Menschenge-
schlecht überführt"] Offensichtlich wird hier auf die berühmte Stelle in Taci-
tus: Annales XV 44 angespielt, wo es von den Christen (und nicht von den
Juden!) angesichts der neronischen Verfolgung heißt, sie seien „haud perinde
in crimine incendii, quam odio humani generis convicti", „weniger wegen des
Verbrechens der Brandstiftung" - Nero machte sie verantwortlich für den gro-
ßen Brand Roms - „als vielmehr wegen ihres allgemeinen Hasses gegen das
Menschengeschlecht überführt" - wobei die Fügung „odium generis humani"
doppeldeutig ist. Es kann sowohl ein Genitivus subjectivus als auch ein Geniti-
vus objectivus gemeint sein: „Hass auf das Menschengeschlecht" oder „Ab-
scheu des Menschengeschlechtes", d.h. diejenigen, die diesen Abscheu auf
sich zogen. Tacitus erwähnt im selben Kapitel, dass Judäa die Region gewesen
sei, von wo aus dieser Aberglaube („superstitio") sich ausgebreitet habe. N.
hat sich gelegentlich direkt auf diese Stelle bezogen (so in M 63, vgl. NK KSA 3,
63, 4) und dabei jeweils korrekt nach der Vorlage die Christen und nicht die
Juden adressiert, ebenso findet sich der Bezug auf die Christen bei von N. gele-
senen Autoren wie Lecky 1879, 1, 373, Fn. 2. Allerdings gehört der Vorwurf der
Menschenfeindlichkeit an die Juden zum topischen Inventar heidnisch-antijü-
discher Polemik (vgl. z. B. die Nachweise bei Cook 2010, 63 f.). Im Fortgang von
GM I 16 wird von der Offenbarung des Johannes als exemplarischem Buch des
sklavenmoralischen Rachebedürfnisses gehandelt, und zwar ausdrücklich als
Beleg für die negativen Affekte, die die Juden Rom gegenüber kultiviert hätten
(286, 15-19). Da konnte sich N. auf Ernest Renans L'Antechrist stützen, wo es
über die Apokalypse heißt: „Un trait plus fächeux fut cette haine sombre du
monde profane, qui est commune ä notre auteur et ä tous les faiseurs d'apoca-
lypses, en particulier ä l'auteur du livre d'Henoch. Sa rudesse, ses jugements
passionnes et injustes sur la societe romaine nous choquent, et justifient jusqu'ä
un certain point ceux qui resumaient la doctrine nouvelle en odium humani gene-
ris. Le pauvre vertueux est toujours un peu porte ä regarder le monde qu'il ne
connait pas comme plus mechant que ce monde n'est en realite. Les crimes
des riches et des gens de cour lui apparaissent singulierement grossis. Cette
espece de fureur vertueuse, que certains barbares, tels que les Vandales, devai-
ent ressentir quatre cents ans plus tard contre la civilisation, les juifs de l'ecole
prophetique et apocalyptique l'eurent au plus haut degre." (Renan 1873a, 474.
„Eine weit schlimmere Eigenthümlichkeit war aber der düstere Haß gegen die
heidnische Welt, welcher unserm Verfasser mit allen Apokalypsenschreibern,
besonders dem des Buches Henoch, gemein ist. Sein rauhes Wesen, seine leiden-
schaftlichen und ungerechten Urtheile über die römische Gesellschaft berühren
Projektion der Herrschenden. Im Übrigen ist das ,Aushungern' nach GM I 16
offenkundig nicht gelungen.
286, 10-12 in Rom galt der Jude „des Hasses gegen das ganze Menschenge-
schlecht überführt"] Offensichtlich wird hier auf die berühmte Stelle in Taci-
tus: Annales XV 44 angespielt, wo es von den Christen (und nicht von den
Juden!) angesichts der neronischen Verfolgung heißt, sie seien „haud perinde
in crimine incendii, quam odio humani generis convicti", „weniger wegen des
Verbrechens der Brandstiftung" - Nero machte sie verantwortlich für den gro-
ßen Brand Roms - „als vielmehr wegen ihres allgemeinen Hasses gegen das
Menschengeschlecht überführt" - wobei die Fügung „odium generis humani"
doppeldeutig ist. Es kann sowohl ein Genitivus subjectivus als auch ein Geniti-
vus objectivus gemeint sein: „Hass auf das Menschengeschlecht" oder „Ab-
scheu des Menschengeschlechtes", d.h. diejenigen, die diesen Abscheu auf
sich zogen. Tacitus erwähnt im selben Kapitel, dass Judäa die Region gewesen
sei, von wo aus dieser Aberglaube („superstitio") sich ausgebreitet habe. N.
hat sich gelegentlich direkt auf diese Stelle bezogen (so in M 63, vgl. NK KSA 3,
63, 4) und dabei jeweils korrekt nach der Vorlage die Christen und nicht die
Juden adressiert, ebenso findet sich der Bezug auf die Christen bei von N. gele-
senen Autoren wie Lecky 1879, 1, 373, Fn. 2. Allerdings gehört der Vorwurf der
Menschenfeindlichkeit an die Juden zum topischen Inventar heidnisch-antijü-
discher Polemik (vgl. z. B. die Nachweise bei Cook 2010, 63 f.). Im Fortgang von
GM I 16 wird von der Offenbarung des Johannes als exemplarischem Buch des
sklavenmoralischen Rachebedürfnisses gehandelt, und zwar ausdrücklich als
Beleg für die negativen Affekte, die die Juden Rom gegenüber kultiviert hätten
(286, 15-19). Da konnte sich N. auf Ernest Renans L'Antechrist stützen, wo es
über die Apokalypse heißt: „Un trait plus fächeux fut cette haine sombre du
monde profane, qui est commune ä notre auteur et ä tous les faiseurs d'apoca-
lypses, en particulier ä l'auteur du livre d'Henoch. Sa rudesse, ses jugements
passionnes et injustes sur la societe romaine nous choquent, et justifient jusqu'ä
un certain point ceux qui resumaient la doctrine nouvelle en odium humani gene-
ris. Le pauvre vertueux est toujours un peu porte ä regarder le monde qu'il ne
connait pas comme plus mechant que ce monde n'est en realite. Les crimes
des riches et des gens de cour lui apparaissent singulierement grossis. Cette
espece de fureur vertueuse, que certains barbares, tels que les Vandales, devai-
ent ressentir quatre cents ans plus tard contre la civilisation, les juifs de l'ecole
prophetique et apocalyptique l'eurent au plus haut degre." (Renan 1873a, 474.
„Eine weit schlimmere Eigenthümlichkeit war aber der düstere Haß gegen die
heidnische Welt, welcher unserm Verfasser mit allen Apokalypsenschreibern,
besonders dem des Buches Henoch, gemein ist. Sein rauhes Wesen, seine leiden-
schaftlichen und ungerechten Urtheile über die römische Gesellschaft berühren