Stellenkommentar GM I 16, KSA 5, S. 286 215
uns unangenehm und rechtfertigen bis zu einem gewissen Grade die Schluß-
folgerung, daß die neue Lehre im odium generis humani bestehe. Der tugendhaf-
te Arme ist immer etwas geneigt, die Welt, die er nicht kennt, für schlimmer
anzusehen, als sie wirklich ist, und die Verbrechen der Reichen und Hofleute
durch ein starkes Vergrößerungsglas zu betrachten. Solchen Tugendfanatis-
mus, den barbarische Völkerschaften wie die Vandalen 400 Jahre später gegen
die Civilisation hegen mußten, hatten die Juden der prophetischen und apoka-
lyptischen Schule im höchsten Grade". Renan 1873b, 377.) Vgl. NK KSA 5, 116,
29-117, 9 zu einer falschen Tacitus-Zuschreibung.
286, 15-19 Was dagegen die Juden gegen Rom empfunden haben? Man erräth
es aus tausend Anzeichen; aber es genügt, sich einmal wieder die Johanneische
Apokalypse zu Gemüthe zu führen, jenen wüstesten aller geschriebenen Ausbrü-
che, welche die Rache auf dem Gewissen hat.] Im vierten Band seiner Histoire
des origines du Christianisme unter dem Titel L'Antechrist behandelt Ernest Re-
nan die Offenbarung des Johannes sehr ausführlich (Renan 1873a, 347-380)
und stellt ihr kein gutes Zeugnis aus: „C'est le livre par excellence de l'orgueil
juif." (Ebd. 475. „Sie ist vorzugsweise das Buch des jüdischen Hochmuthes."
Renan 1873b, 377.) Vgl. NK 286, 10-12.
286, 19-25 (Unterschätze man übrigens die tiefe Folgerichtigkeit des christli-
chen Instinktes nicht, als er gerade dieses Buch des Hasses mit dem Namen des
Jüngers der Liebe überschrieb, desselben, dem er jenes verliebt-schwärmerische
Evangelium zu eigen gab —: darin steckt ein Stück Wahrheit, wie viel litterarische
Falschmünzerei auch zu diesem Zwecke nöthig gewesen sein mag.)] Die Identität
des Herrenjüngers Johannes, des gleichnamigen Evangelisten und des Verfas-
sers der Apokalypse ist seit jeher umstritten. Renan 1873a, XXII-XLIII resümiert
die Diskussion eingehend und stellt zunächst fest: „S'il y a quelque chose
d'evident, c'est que l'Apocalypse, d'une part, l'Evangile et les trois epitres,
d'autre part, ne sont pas sortis de la meme main. L'Apocalypse est le plus juif,
le quatrieme Evangile est le moins juif des ecrits du Nouveau Testament."
(Ebd., XXV. „Denn es ist ganz offenbar, daß Apokalypse einerseits, Evangelium
und Briefe andererseits nicht aus derselben Hand hervorgegangen sein kön-
nen, weil Apokalypse die jüdischste, das vierte Evangelium die am wenigsten
jüdische Schrift im Neuen Testament ist." Renan 1873b, XXIV.) Indes gerät Re-
nan bei der Erwägung der Argumente ins Schwanken. Er neigt dann dazu, das
Judenchristliche als typisch johanneisch hinzustellen und gelangt zur Hypo-
these, „Jean aurait plutöt accepte l'Apocalypse qu'il ne l'aurait ecrite de sa
main" (Renan 1873a, XLII. „Johannes [hätte] die Apokalypse eher angenommen,
als mit eigner Hand geschrieben". Renan 1873b, XXXVII). Der Grund, dessentwe-
gen schon Kritiker in der Alten Kirche dazu gelangt seien, die Autorschaft des
uns unangenehm und rechtfertigen bis zu einem gewissen Grade die Schluß-
folgerung, daß die neue Lehre im odium generis humani bestehe. Der tugendhaf-
te Arme ist immer etwas geneigt, die Welt, die er nicht kennt, für schlimmer
anzusehen, als sie wirklich ist, und die Verbrechen der Reichen und Hofleute
durch ein starkes Vergrößerungsglas zu betrachten. Solchen Tugendfanatis-
mus, den barbarische Völkerschaften wie die Vandalen 400 Jahre später gegen
die Civilisation hegen mußten, hatten die Juden der prophetischen und apoka-
lyptischen Schule im höchsten Grade". Renan 1873b, 377.) Vgl. NK KSA 5, 116,
29-117, 9 zu einer falschen Tacitus-Zuschreibung.
286, 15-19 Was dagegen die Juden gegen Rom empfunden haben? Man erräth
es aus tausend Anzeichen; aber es genügt, sich einmal wieder die Johanneische
Apokalypse zu Gemüthe zu führen, jenen wüstesten aller geschriebenen Ausbrü-
che, welche die Rache auf dem Gewissen hat.] Im vierten Band seiner Histoire
des origines du Christianisme unter dem Titel L'Antechrist behandelt Ernest Re-
nan die Offenbarung des Johannes sehr ausführlich (Renan 1873a, 347-380)
und stellt ihr kein gutes Zeugnis aus: „C'est le livre par excellence de l'orgueil
juif." (Ebd. 475. „Sie ist vorzugsweise das Buch des jüdischen Hochmuthes."
Renan 1873b, 377.) Vgl. NK 286, 10-12.
286, 19-25 (Unterschätze man übrigens die tiefe Folgerichtigkeit des christli-
chen Instinktes nicht, als er gerade dieses Buch des Hasses mit dem Namen des
Jüngers der Liebe überschrieb, desselben, dem er jenes verliebt-schwärmerische
Evangelium zu eigen gab —: darin steckt ein Stück Wahrheit, wie viel litterarische
Falschmünzerei auch zu diesem Zwecke nöthig gewesen sein mag.)] Die Identität
des Herrenjüngers Johannes, des gleichnamigen Evangelisten und des Verfas-
sers der Apokalypse ist seit jeher umstritten. Renan 1873a, XXII-XLIII resümiert
die Diskussion eingehend und stellt zunächst fest: „S'il y a quelque chose
d'evident, c'est que l'Apocalypse, d'une part, l'Evangile et les trois epitres,
d'autre part, ne sont pas sortis de la meme main. L'Apocalypse est le plus juif,
le quatrieme Evangile est le moins juif des ecrits du Nouveau Testament."
(Ebd., XXV. „Denn es ist ganz offenbar, daß Apokalypse einerseits, Evangelium
und Briefe andererseits nicht aus derselben Hand hervorgegangen sein kön-
nen, weil Apokalypse die jüdischste, das vierte Evangelium die am wenigsten
jüdische Schrift im Neuen Testament ist." Renan 1873b, XXIV.) Indes gerät Re-
nan bei der Erwägung der Argumente ins Schwanken. Er neigt dann dazu, das
Judenchristliche als typisch johanneisch hinzustellen und gelangt zur Hypo-
these, „Jean aurait plutöt accepte l'Apocalypse qu'il ne l'aurait ecrite de sa
main" (Renan 1873a, XLII. „Johannes [hätte] die Apokalypse eher angenommen,
als mit eigner Hand geschrieben". Renan 1873b, XXXVII). Der Grund, dessentwe-
gen schon Kritiker in der Alten Kirche dazu gelangt seien, die Autorschaft des