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Stellenkommentar GM I 16, KSA 5, S. 286 213

Schlachtstimme herabsiechte zu betendem Pfaffengewimmer und Kastratenge-
triller." (Heine 1861b, 22) Solche Überlegungen reihen sich ein in den die euro-
päische Kulturgeschichte durchziehenden Antijudaismus. Texte wie GM I 16
ließen sich als Beleg für die von David Nirenberg stark gemachte These heran-
ziehen, der Antijudaismus sei ein konstituierendes Moment des westlichen
Denkens (Nirenberg 2013 verzichtet allerdings darauf, N. zum Kronzeugen zu
erheben), nämlich sich „den" Juden als Gegenbild zu erfinden (ein Gegenbild,
das mit realen Juden sehr wenig zu tun hat), um sich selber positiv zu profilie-
ren. In GM erfüllt das historische Judentum eine bestimmte weltgeschichtliche
Funktion, nämlich die einer sklavenmoralischen Umwertung, gegen die sich
das sprechende „Ich" mit seinen eigenen moral(zer)setzenden Sprechakten tat-
sächlich leuchtend abheben will, während das zeitgenössische Judentum, das
für die damaligen Antisemiten wie Bernhard Förster und N.s Schwester den
Stein des Anstoßes bot, ganz im Schatten bleibt. Ende 1888 erhoffte sich das
sprechende „Ich" eines Nachlass-Notats schließlich für die Umwertung aller
Werte ausgerechnet die Unterstützung des preußischen Militärs und der Juden:
„Ich lege Werth darauf, zunächst die Offiziere und die jüdischen Banquiers für
mich zu haben." (NL 1888/89, KSA 13, 25[11], 642, 15-17) Die Juden werden nun
in die moderne Heilsgeschichte einer erneuten, die Sklavenmoral zurückdrän-
genden oder gar austilgenden Umwertung eingebaut - nach einem Schema,
das N. mit der Wahl der Zarathustra-Figur bereits befolgt hatte: Zarathustra
musste als Aufheber der Moral in Szene gesetzt werden, weil der historische
persische Prophet dieses Namens als erster den Dualismus von Gut und Böse in
die Welt gesetzt haben soll. Analog wird in N.s spätesten Texten vom Judentum
gedacht.
Zur Rezeption des Gegensatzes „Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom" bei
romanophilen, katholischen und rechtsgerichteten Autoren wie Carl Schmitt,
Charles Maurras und Theodor Haecker siehe Faber 1991 und ergänzend Faber
2004. Rudolph 2007, 50 f. argumentiert, dass in GM I 16 nur eine bestimmte
Form des sklavenmoralischen Judentums, das dann nahtlos ins Christentum
übergegangen sei, attackiert werde, aber nicht das vornehme Judentum, das
an anderer Stelle bei N. hochgeschätzt wird.
286, 9 f. Rom empfand im Juden Etwas wie die Widernatur selbst, gleichsam
sein antipodisches Monstrum] In W II 2, 62, 2-8 (KGW IX 6) wird dieses Gegen-
satzempfinden deutlich kritischer akzentuiert: „Jede Gesellschaft hat die Ten-
denz, ihre Gegner bis zur Carikatur / herunterzubringen u. gleichsam auszu-
hungern [...]. In Mitten der römisch=aristokr[atischen] Ordnung der Werthe /
war zb. der Jude zur Carikatur reduzirt." (Vgl. NL 1887, KSA 12, 10[112], 521, 1-
6; auch Thatcher 1989, 590.) Demnach wäre „der Jude" in erster Linie eine
 
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