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212 Zur Genealogie der Moral

Griechische verdrängt - wobei dies vornehmlich aus strategischen Erwägun-
gen geschieht: Man kann weder Juden noch Christen dafür belangen, das hero-
ische Griechentum vernichtet zu haben. Also müssen sie wenigstens am Unter-
gang Roms schuld sein, das im umwerterisch-moralkritischen Geschichtsge-
mälde entsprechend aufgewertet werden muss.
286, 4-9 Das Symbol dieses Kampfes, in einer Schrift geschrieben, die über alle
Menschengeschichte hinweg bisher lesbar blieb, heisst „Rom gegen Judäa, Judäa
gegen Rom": — es gab bisher kein grösseres Ereigniss als diesen Kampf, diese
Fragestellung, diesen todfeindlichen Widerspruch.] Als im 1. Jahrhundert vor
Christus die Römer jene Gebiete eroberten, die zunächst zum tributpflichtigen
Marionettenreich, dann zur römischen Provinz Judäa wurden, waren politisch-
militärische Unruhen von vornherein einzukalkulieren. Im sogenannten Jüdi-
schen Krieg von 66 bis 70 n. Chr. versuchten die Einheimischen das Besat-
zungsjoch abzuschütteln und mussten schließlich doch die Zerstörung des
Tempels in Jerusalem in Kauf nehmen; mit der Niederschlagung des Bar-Koch-
ba-Aufstandes 135 n. Chr. und dem Verbot für Juden, in Jerusalem zu leben,
verlor das Judentum sein politisch-religiöses Zentrum und lebte seither in der
Diaspora. Die militärische Überlegenheit der Besatzungsmacht schien den
Kampf Roms gegen Judäa endgültig entschieden zu haben. N.s Argument ist
nun, dass sich der Kampf ganz gegen diesen Anschein ins Moralische verlagert
habe und dass das Judentum in Gestalt seines weitläufigen Abkömmlings, des
Christentums, am Ende schließlich entgegen aller politisch-militärischen
Wahrscheinlichkeit den Sieg davongetragen, sich also mit seinen spezifischen,
nämlich sklavenmoralischen Werten durchgesetzt habe. GM I 16 schildert die-
sen Siegeszug im Zeitraffer der letzten zwei Jahrtausende, ohne freilich Ursa-
chen dafür namhaft zu machen, warum sich denn die Vornehmen, die das Rö-
mische Reich repräsentiert haben (sollen), von diesen Werten haben einfangen
lassen, obwohl ihre politisch-militärische Vormachtstellung doch lange Zeit
unbestritten war.
Der Gedanke, wonach das Christentum am Untergang des Römischen Rei-
ches zumindest eine wesentliche Mitschuld trug, wurde spätestens seit Edward
Gibbon im 18. Jahrhundert diskutiert (zu N. und Gibbon siehe Sommer 2015a).
Heinrich Heine nimmt in der Romantischen Schule von 1835 (vgl. NK KSA 6,
246, 33) die Zuspitzung auf eine Rache Judäas bereits vorweg: „Hat etwa das
gemeuchelte Judäa, indem es den Römern seinen Spiritualismus bescherte,
sich an dem siegenden Feinde rächen wollen, wie einst der sterbende Zentaur,
der dem Sohne Jupiters das verderbliche Gewand, das mit dem eignen Blute
vergiftet war, so listig zu überliefern wußte? Wahrlich, Rom, der Herkules un-
ter den Völkern, wurde durch das judäische Gift so wirksam verzehrt, daß Helm
und Harnisch seinen welkenden Gliedern entsanken und seine imperatorische
 
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