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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0450
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Stellenkommentar GM III 6, KSA 5, S. 347-348 431

wunderlich genug: das Wort „ohne Interesse" interpretirte er sich in der allerper-
sönlichsten Weise, aus einer Erfahrung heraus, die bei ihm zu den regelmässigs-
ten gehört haben muss. Über wenig Dinge redet Schopenhauer so sicher wie über
die Wirkung der ästhetischen Contemplation: er sagt ihr nach, dass sie gerade
der geschlechtlichen „Interessirtheit" entgegenwirke, ähnlich also wie Lupu-
lin und Kampher, er ist nie müde geworden, dieses Loskommen vom „Willen"
als den grossen Vorzug und Nutzen des ästhetischen Zustandes zu verherrlichen.]
Einschlägig hierfür wäre beispielsweise eine Stelle aus Schopenhauers Die Welt
als Wille und Vorstellung, die unmittelbar vor der in 348, 21-25 zitierten steht:
„Wann aber äußerer Anlaß, oder innere Stimmung, uns plötzlich aus dem end-
losen Strome des Wollens heraushebt, die Erkenntniß dem Sklavendienste des
Willens entreißt, die Aufmerksamkeit nun nicht mehr auf die Motive des Wol-
lens gerichtet wird, sondern die Dinge frei von ihrer Beziehung auf den Willen
auffaßt, also ohne Interesse, ohne Subjektivität, rein objektiv sie betrachtet,
ihnen ganz hingegeben, sofern sie bloß Vorstellungen, nicht sofern sie Motive
sind: dann ist die aus jenem ersten Wege des Wollens immer gesuchte, aber
immer entfliehende Ruhe mit einem Male von selbst eingetreten, und uns ist
völlig wohl." (Schopenhauer 1873-1874, 2, 331, vgl. auch Kapitel 34 im Dritten
Buch des Hauptwerks: „Ueber das innere Wesen der Kunst", ebd., 3, 463-468
mit diversen Lesespuren N.s). Zur Rezeption dieser Schopenhauer-Kritik bei
Thomas Mann siehe Reents 1998, 44 f.
348, 4 Lupulin und Kampher] Lupulin ist der Bitterstoff der Hopfenpflanze; der
psychoaktive, pulverförmige Kampfer oder Campher wird aus dem Kampfer-
baum (Cinnamomum camphora) gewonnen. Wie beide nach dem damaligen
medizinischen Erkenntnisstand wirkten, konnte N. dem in seinem Besitz be-
findlichen Compendium der praktischen Medicin von Carl Ferdinand Kunze ent-
nehmen, nämlich, dass im Falle der Tabes dorsalis oder Rückenmarksdarre
„die Neigung zu häufigen Erectionen [...] durch Campher und Lupulin zu mäs-
sigen" sei (Kunze 1881, 64). Im Falle von „Pollutionen und Spermatorrhoe",
genauer: „abnorm häufigen Samenergüsse[n]", einem „krankhaft vermehrten
Geschlechtsreiz und häufige Pollutionen", insbesondere „nach lange getriebe-
ner Onanie" ist folgende Therapie angesagt: „kalte Sitzbäder und kalte Wa-
schungen der Genitalien (jedoch nicht des Abends), Lupulin 0,3-0,5, Cam-
pher" (ebd., 405). Den beiden Medizinalstoffen wird in der medizinischen Lite-
ratur der Zeit also genau jene Wirkung zugeschrieben, die nach Schopenhauer
die Kunst haben soll: den Geschlechtstrieb zu bändigen. Vgl. auch NK 370, If.
348, 11-14 Bei allen Fragen in Betreff der Schopenhauer'schen Philosophie ist,
anbei bemerkt, niemals äusser Acht zu lassen, dass sie die Conception eines
sechsundzwanzigjährigen Jünglings ist] Der erste Band von Schopenhauers Die
 
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