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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0572
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Stellenkommentar GM III 22, KSA 5, S. 392-393 553

zu behelligen. Ein weiteres Beispiel für das christliche Geschmacksunglück
gibt Martin Luther ab, der ebenso rüpelhaft mit seinem Gott zu reden begehrte
und damit „die gute Etiquette der Kirche verdross, jene Ehrfurchts-Etiquet-
te des hieratischen Geschmacks" (394, 30 f.). Es scheint also entgegen der Ein-
gangswendung von GM III 22 durchaus auch im Herrschaftsbereich christlich-
asketischer Priester, eben der Kirche, zumindest besseren Geschmack gegeben
zu haben als ihn beispielsweise Luther verkörperte (vgl. FW 358, KSA 3, 604).
Was genau die Kriterien für guten Geschmack sein sollen und in welcher Weise
dessen Kontamination durch das christliche Ideal vonstattengeht - abgesehen
vom Verdikt einer allgemeinen Verpöbelung -, enthält GM III 22 den Lesern
vor. Immerhin wäre auch eine Geschmacksverfeinerung unter dem Einfluss des
asketischen Ideals denkbar - die Schulung eines Sinns für Abseitiges, Differen-
tes, für Ausgefallenes und Besonderes.
393, 1 in artibus et litteris] Lateinisch: „in Künsten und Literatur".
393, 4-6 er gilt dem Grundbuche der christlichen Litteratur, ihrem eigentlichen
Modell, ihrem „Buche an sich"] Die Bibel, so die Unterstellung dieses Passus,
ist für den Christen das, was für den Kantianer das „Ding an sich" ist. Letzteres
wird bei N. wiederholt als Chimäre attackiert, vgl. z. B. NK 280, 4. Dass die
Bibel entgegen christlicher Überzeugung keineswegs die Verlautbarung oder
das Wort Gottes ist, sondern vielmehr die Verlautbarung von sehr mittelmäßi-
gen Menschen, adressiert an Gleichartige, will GM III 22 veranschaulichen. An-
tibiblische Polemik nimmt N. entsprechend dankbar auf: „Von den Protestan-
ten und den Katholiken wird vollgültig bewiesen, dass das Ansehen von Bibel
und Kirche zu Recht bestehe. ,Da es Gottes Wille war', so sagen sie, ,den Men-
schen einen Glauben zu geben, so musste er sie gleichzeitig mit einem beque-
men Mittel gegen jegliches Abirren vom wahren Glauben begaben. Die Gele-
genheiten zu irren sind fast ebenso häufig wie die zu sündigen. Sollte Er, der
in unsern Herzen die Fackel des Gewissens entzündet, unserm Verstände eine
gleiche Leuchte versagen? Sich nur den Gelehrten und den Philosophen zu
offenbaren, würde eines so vollkommenen Wesens unwürdig sein. Er lässt die
Sonne ebensowohl für die Armen wie für die Reichen scheinen; sollte er die
Sonne der Wahrheit nicht auch für das geistige Auge der Beschränktheit leuch-
ten lassen? Auch hat er den Schatz der Wahrheit für alle Zeiten' — nach den
Einen ,in einem für Alle zugänglichen Buche' —, nach den Andern ,bei einem
Gerichtshof niedergelegt, dessen Urtheile überall vernommen werden. Also be-
finden sich die Vorschrift für den Glauben und die Speise für die Seele im Berei-
che aller mit Vernunft begabten Wesen.' Eine ähnliche Folgerung liesse sich
hinsichtlich der Demokratie aufstellen. Natürlich giebt es da weder Bibel noch
Pabst." (Frary 1884, 167. N.s Unterstreichung, ganze Passage am Rand doppelt
 
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