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554 Zur Genealogie der Moral

angestrichen.) Natürlich erscheint Frary die christliche Argumentation zur Be-
glaubigung der Schrift (Protestanten) bzw. des Papsttums (Katholiken) glei-
chermaßen hanebüchen, aber er zögert nicht, sie für sein Projekt der politi-
schen Demagogenausbildung dienstbar zu machen.
393, 6-15 Noch inmitten der griechisch-römischen Herrlichkeit, welche auch
eine Bücher-Herrlichkeit war, Angesichts einer noch nicht verkümmerten und zer-
trümmerten antiken Schriften-Welt, zu einer Zeit, da man noch einige Bücher le-
sen konnte, um deren Besitz man jetzt halbe Litteraturen eintauschen würde,
wagte es bereits die Einfalt und Eitelkeit christlicher Agitatoren — man heisst sie
Kirchenväter — zu dekretiren: „auch wir haben unsre klassische Litteratur, wir
brauchen die der Griechen nicht", — und dabei wies man stolz auf Le-
gendenbücher, Apostelbriefe und apologetische Traktätlein hin] Diesen Prozess,
wie sich eine christliche Literatur formierte und eine kanonische „Urlitte-
ratur" - das Neue Testament - festschrieb, hat N.s Freund Franz Overbeck mit
den nüchternen Instrumenten der Literargeschichte zu einem Hauptgegen-
stand seiner Forschungen gemacht (vgl. insbesondere Overbeck 1880 und
Overbeck 1882). GM III 22 gibt in polemischer Weise eine Antwort auf das Prob-
lem, das Overbeck zu Beginn seines Aufsatzes Über die Anfänge der patristi-
schen Literatur formuliert hat: „Wer vor der Foliantenreihe der Kirchenväter
sich fragte, was diese Literatur eigentlich sei und wie sie entstanden sei, würde
sich jedenfalls vergeblich an die noch gegenwärtig gangbaren Lehrbücher der
Patristik um Antwort wenden." (Overbeck 1882, 417 = Overbeck 2010, 3, 33) Die
Antwort in GM III 22 pointiert Overbecks Analyse, wonach die sogenannten
Kirchenväter versuchen, einen Urschriften-Kanon gegen die „heidnischen"
Klassiker zu setzen und sich selbst als die einzig berufenen Ausleger dieses
Kanons zu empfehlen. „Hat man aus der patristischen Literatur die christliche
Urliteratur ausgeschieden, so steht der Definition der patristischen nichts mehr
im Wege als der griechisch-römischen Literatur christlichen Bekenntnisses und
christlichen Interesses" (Overbeck 1882, 444 = Overbeck 2010, 3, 59). Was N.
von den Kirchenvätern, namentlich ihrem berühmtesten Repräsentanten, Au-
gustinus, hält, hat er Overbeck in seinem Brief vom 31. 03. 1885 verraten: „Ich
las jetzt, zur Erholung, die Confessionen des h(eiligen) Augustin, mit großem
Bedauern, daß Du nicht bei mir warst. Oh dieser alte Rhetor! Wie falsch und
augenverdreherisch! [...] Philosophischer Werth gleich Null. Verpöbelter
Platonismus, das will sagen, eine Denkweise, welche für die höchste seeli-
sche Aristokratie erfunden wurde, zurecht gemacht für Sklaven-Naturen. Übri-
gens sieht man, bei diesem Buche, dem Christenthum in den Bauch: ich stehe
dabei mit der Neugierde eines radikalen Arztes und Physiologen" (KSB 7/
KGB III 3, Nr. 589, S. 34, Z. 43-57, vgl. NK KSA 5, 12, 33 f.).
 
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