Stellenkommentar WA 7, KSA 6, S. 28 115
das Drama (1879) ableiten mag. Im dritten Teil von Oper und Drama heißt es
z. B.: „Da, wo sich dramatische Persönlichkeiten zum mehrstimmigen Gesange
anließen, geschah dieß — im eigentlichen Opernstyle — zur sinnlich wirksa-
men Verstärkung des individuellen Ausdruckes, oder — im wirklich dramati-
schen Style — als, durch die höchste Kunst vermittelte, gleichzeitige Kundge-
bung fortgesetzt sich behauptender charakteristischer Individualitäten."
(Wagner 1871-1873, 4, 203 = Wagner 1907, 4, 162, vgl. auch Wagner 1907, 9,
190) Die Vermutung, dass der Anspruch auf „dramatischen Stil" nur eine Finte
Wagners gewesen sei, um von seiner „Stil-Auflösung" abzulenken, artikuliert
N. auch im Nachlass, und zwar im Rahmen einer Breitseite gegen die musikali-
sche Ästhetik der Gegenwart: „wenn gar noch die vollkommene und in die
Augen springende Stil-Auflösung Wagners, sein sogenannter dramatischer Stil
als ,Vorbild', als ,Meisterschaft', als ,Fortschritt', gelehrt und verehrt wird, so
kommt meine Ungeduld auf ihren Gipfel. Der dramatische Stil in der Musik,
wie ihn Wagner versteht, ist die Verzichtleistung auf Stil überhaupt unter der
Voraussetzung daß etwas (Anderes) hundert Mal wichtiger ist als Musik, näm-
lich das Drama." (NL 1888, KSA 13, 16[29], 490, 8-16) N. bezieht sich auch in
NL 1888, KSA 13, 15[6]3, 405, 11 f. auf ein offenbar verbreitetes Urteil, Wagner
habe den „dramatischen Stil" musikalisch erst geschaffen. Tatsächlich spricht
etwa Pohl 1883b, 267 vom „neue[n] dramatisch-musikalische[n] Stil" Wagners.
N. hält dagegen: „Die Naiven glauben ihm [sc. Wagner] etwas zu Ehren zu
sagen, wenn sie dekretiren: Wagner habe den dramatischen Stil der Musik
geschaffen. Dieser ,dramatische Stil' ist, ohne Umschweife geredet, die Stil-
losigkeit, Stil-widrigkeit, Stil-Impotenz zum Prinzip gemacht: dramatische
Musik, so verstanden, ist nur ein Synonym für die ,schlechteste aller möglichen
Musiken'... Man thut Wagner Unrecht, wenn man aus ihm einen Musiker
machen will." (NL 1888, KSA 13, 15[6]3, 405, 9-17).
Zum Fehlen von Stil bei den Goncourts nach Bourget vgl. den Quellenaus-
zug in NK 28, 7-9.
28, 15-18 sehr verschieden hierin, anbei gesagt, vom alten Kant, der eine
andre Kühnheit liebte: nämlich überall, wo ihm ein Princip fehlte, ein „Vermö-
gen" dafür im Menschen anzusetzen...] N. hatte diese „Kühnheit" Kants in JGB
11, KSA 5, 24, 17-25, 22 behandelt und dort als Triebkraft des Deutschen Idealis-
mus verstanden: Kant „war stolz darauf, im Menschen ein neues Vermögen,
das Vermögen zu synthetischen Urteilen a priori, entdeckt zu haben.
Gesetzt, dass er sich hierin selbst betrog: aber die Entwicklung und rasche
Blüthe der deutschen Philosophie hängt an diesem Stolze und an dem Wettei-
fer aller Jüngeren, womöglich noch Stolzeres zu entdecken — und jedenfalls
,neue Vermögen'! — Aber besinnen wir uns: es ist an der Zeit. Wie sind synthe-
tische Urtheile a priori möglich? fragte sich Kant, — und was antwortete er
das Drama (1879) ableiten mag. Im dritten Teil von Oper und Drama heißt es
z. B.: „Da, wo sich dramatische Persönlichkeiten zum mehrstimmigen Gesange
anließen, geschah dieß — im eigentlichen Opernstyle — zur sinnlich wirksa-
men Verstärkung des individuellen Ausdruckes, oder — im wirklich dramati-
schen Style — als, durch die höchste Kunst vermittelte, gleichzeitige Kundge-
bung fortgesetzt sich behauptender charakteristischer Individualitäten."
(Wagner 1871-1873, 4, 203 = Wagner 1907, 4, 162, vgl. auch Wagner 1907, 9,
190) Die Vermutung, dass der Anspruch auf „dramatischen Stil" nur eine Finte
Wagners gewesen sei, um von seiner „Stil-Auflösung" abzulenken, artikuliert
N. auch im Nachlass, und zwar im Rahmen einer Breitseite gegen die musikali-
sche Ästhetik der Gegenwart: „wenn gar noch die vollkommene und in die
Augen springende Stil-Auflösung Wagners, sein sogenannter dramatischer Stil
als ,Vorbild', als ,Meisterschaft', als ,Fortschritt', gelehrt und verehrt wird, so
kommt meine Ungeduld auf ihren Gipfel. Der dramatische Stil in der Musik,
wie ihn Wagner versteht, ist die Verzichtleistung auf Stil überhaupt unter der
Voraussetzung daß etwas (Anderes) hundert Mal wichtiger ist als Musik, näm-
lich das Drama." (NL 1888, KSA 13, 16[29], 490, 8-16) N. bezieht sich auch in
NL 1888, KSA 13, 15[6]3, 405, 11 f. auf ein offenbar verbreitetes Urteil, Wagner
habe den „dramatischen Stil" musikalisch erst geschaffen. Tatsächlich spricht
etwa Pohl 1883b, 267 vom „neue[n] dramatisch-musikalische[n] Stil" Wagners.
N. hält dagegen: „Die Naiven glauben ihm [sc. Wagner] etwas zu Ehren zu
sagen, wenn sie dekretiren: Wagner habe den dramatischen Stil der Musik
geschaffen. Dieser ,dramatische Stil' ist, ohne Umschweife geredet, die Stil-
losigkeit, Stil-widrigkeit, Stil-Impotenz zum Prinzip gemacht: dramatische
Musik, so verstanden, ist nur ein Synonym für die ,schlechteste aller möglichen
Musiken'... Man thut Wagner Unrecht, wenn man aus ihm einen Musiker
machen will." (NL 1888, KSA 13, 15[6]3, 405, 9-17).
Zum Fehlen von Stil bei den Goncourts nach Bourget vgl. den Quellenaus-
zug in NK 28, 7-9.
28, 15-18 sehr verschieden hierin, anbei gesagt, vom alten Kant, der eine
andre Kühnheit liebte: nämlich überall, wo ihm ein Princip fehlte, ein „Vermö-
gen" dafür im Menschen anzusetzen...] N. hatte diese „Kühnheit" Kants in JGB
11, KSA 5, 24, 17-25, 22 behandelt und dort als Triebkraft des Deutschen Idealis-
mus verstanden: Kant „war stolz darauf, im Menschen ein neues Vermögen,
das Vermögen zu synthetischen Urteilen a priori, entdeckt zu haben.
Gesetzt, dass er sich hierin selbst betrog: aber die Entwicklung und rasche
Blüthe der deutschen Philosophie hängt an diesem Stolze und an dem Wettei-
fer aller Jüngeren, womöglich noch Stolzeres zu entdecken — und jedenfalls
,neue Vermögen'! — Aber besinnen wir uns: es ist an der Zeit. Wie sind synthe-
tische Urtheile a priori möglich? fragte sich Kant, — und was antwortete er