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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0135
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116 Der Fall Wagner

eigentlich? Vermöge eines Vermögens: leider aber nicht mit drei Worten,
sondern so umständlich, ehrwürdig und mit einem solchen Aufwande von
deutschem Tief- und Schnörkelsinne, dass man die lustige niaiserie allemande
überhörte, welche in einer solchen Antwort steckt. [...] Es kam der Honigmond
der deutschen Philosophie; alle jungen Theologen des Tübinger Stifts giengen
alsbald in die Büsche, — alle suchten nach ,Vermögen'. [...] Man hatte
geträumt: voran und zuerst — der alte Kant. ,Vermöge eines Vermögens' —
hatte er gesagt, mindestens gemeint. Aber ist denn das — eine Antwort? Eine
Erklärung? Oder nicht vielmehr nur eine Wiederholung der Frage?" N.s origi-
nelle Wendung „vermöge eines Vermögens" spielt an auf einen Satz in der
Ersten Einleitung zur Kritik der Urtheilskraft: „Wir können alle Vermögen des
menschlichen Gemüths ohne Ausnahme auf die drei zurückführen: das
Erkenntnißvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das
Begehrungsvermögen" (AA 20, 205 f., vgl. dazu auch Fischer 1889, 4,
400).
Wagner verfügt demgegenüber nach WA 7 nicht einmal mehr über ein Ver-
mögen, sondern nur noch über ein Unvermögen, nämlich das Unvermögen zur
musikalisch-dramatischen Synthesis.
28, 18-24 Nochmals gesagt: bewunderungswürdig, liebenswürdig ist Wagner
nur in der Erfindung des Kleinsten, in der Ausdichtung des Details, — man hat
alles Recht auf seiner Seite, ihn hier als einen Meister ersten Ranges zu proklami-
ren, als unsern grössten Miniaturisten der Musik, der in den kleinsten Raum
eine Unendlichkeit von Sinn und Süsse drängt.] Bereits in NL 1878, KSA 8, 30[50],
530 hat N. notiert: „Wagner's Kunst auf Kurzsichtige berechnet — allzugrosse
Nähe nöthig (Miniatur), zugleich aber fernsichtig. Aber kein normales Auge."
Vgl. auch Bellaigue 1885, 463: „Des fragmens de Wagner sont parfois sublimes,
un opera tout entier est accablant. [...] Il a detruit plus que la formule: la forme
elle-meme." („Fragmente von Wagner sind manchmal erhaben, eine gesamte
Oper ist unerträglich. [...] Er hat mehr als die Formel zerstört: er hat die Form
an sich zerstört.") Das vermeintliche Lob der Fähigkeit Wagners zur „Ausdich-
tung des Details" beschreibt ihn zugleich als Inbegriff des dekadenten Künst-
lers.
28, 27-30 Will man mir glauben, so hat man den höchsten Begriff Wagner
nicht aus dem zu entnehmen, was heute von ihm gefällt. Das ist zur Überredung
von Massen erfunden, davor springt Unsereins wie vor einem allzufrechen
Affresco zurück.] In W II 7, 77 (KSA 14, 406) heißt es: „Der ganze Rest ist Schau-
spielerei, Falschmünzerei oder wie man's nehmen will: Musik für ,Idioten' die
,Masse'".
28, 30 Affresco] „Freskomalerei (Malerei a fresco, nicht al fresco), diejenige
Art Malerei, welche mit Wasserfarben auf einer noch frischen (ital. fresco)
 
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