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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0133
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114 Der Fall Wagner

essayant d'eliminer tonte nuance personnelle. Qui dit exactitude absolue dit
absence de style, et qui parle de style suppose une part necessaire d'inexacti-
tude." (Ebd., 194 f. „Sie evozieren eine Einrichtung, eine Landschaft, eine
Straße mit der Vorstellungskraft eines geschärften Schriftstellerblickes, — doch
die Person, die sie in diesen Rahmen stellen, konnte auf diese Weise gar nicht
sehen. Hier liegt, in allen Sittenromanen, die von den Goncourts und ihren
Anhängern mit einer so vibrierenden Prosa geschrieben wurden, der Schwach-
punkt, das erste Paradoxon, der initiale Irrtum. Man wird hier einen Spezialfall
der irreduziblen Antithese zwischen Kunst und Wissenschaft erkennen. Der
Erste, der den Ausdruck sucht, interpretiert grundsätzlich die Wirklichkeit,
indem er sie verformt, um einen gewissen Effekt zu erzielen; anstatt wie die
Wissenschaft diese reine Wirklichkeit zuzugeben, indem sie versucht, jede per-
sönliche Nuance zu entfernen. Wer absolute Genauigkeit sagt, sagt Abwesenheit
von Stil, und wer von Stil spricht, geht von einem notwendigen Anteil von Unge-
nauigkeit aus.") Verglichen mit den Dichtern des 17. Jahrhunderts — Bourget
nennt Racine — haben die von den Goncourts exemplarisch repräsentierten
zeitgenössischen Dichter die Manieren von Emporkömmlingen: „Notre demo-
cratie a fait sa besogne d'eparpillement ici comme ailleurs. L'homme moderne,
qu'il veuille construire sa fortune ou ecrire un livre, n'a pas de vaste organisme
hereditaire oü prendre place. Il en resulte un cruel abandon, mais aussi une
farouche independance. Les Freres de Goncourt ont incarne en eux, avec une
rare intensite, ce caractere de l'ecrivain de nos jours, et leur fascination sur
tant de jeunes hommes de talent a pour principe cette belle vertu de l'intransi-
geance absolue qui a ete la leur." (Ebd., 197. Randmarkierungen N.s; von ihm
Unterstrichenes kursiv. „Unsere Demokratie hat ihren Beitrag zur Vereinzelung
geleistet, hier wie woanders. Der moderne Mensch, ob er ein Vermögen
machen oder ein Buch schreiben will, hat keinen umfangreichen, vererbten
Organismus, um Platz zu nehmen. Daraus folgt eine grausame Verlassenheit,
aber auch eine fanatische Unabhängigkeit. Die Brüder Goncourt haben diesen
Charakter des heutigen Schriftstellers mit einer seltenen Intensität verkörpert,
und die Faszination, die sie auf so viele junge talentierte Männer ausüben, hat
als Prinzip diese schöne Tugend der absoluten Intransigenz, welche die ihre
war").
28, 9-14 Dass Wagner seine Unfähigkeit zum organischen Gestalten in ein Prin-
cip verkleidet hat, dass er einen „dramatischen Stil" statuirt, wo wir bloss sein
Unvermögen zum Stil überhaupt statuiren, entspricht einer kühnen Gewohnheit,
die Wagnern durch's ganze Leben begleitet hat] Wagner benutzt die Wendung
„dramatischer Stil" (er schreibt konsequent „Styl") nicht häufig, auch wenn
man Forderungen nach einem entsprechenden Stil aus vielen Wagner-Schrif-
ten — von Oper und Drama (1850/51) bis zu Über die Anwendung der Musik auf
 
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