Stellenkommentar WA Zweite Nachschrift, KSA 6, S. 46-47 183
Marchesi seien „les Bernin de la musique vocale"). In seinem Brief vom 29. 07.
1877 an Carl Fuchs spricht N. über Wagners Rhythmik, wozu er meint: „Mitun-
ter — aber es ist vielleicht crimen laesae majestatis — fällt mir die Manier
Bernini's ein, der auch die Säule nicht mehr einfach erträgt, sondern sie von
unten bis oben durch Voluten wie er glaubt lebendig macht. Unter den
gefährlichen Nachwirkungen W(agner)'s scheint mir ,das Lebendig-machen-
wollen um jeden Preis' eine der gefährlichsten: denn blitzschnell wird's
Manier, Handgriff." (KSB 5, Nr. 640, S. 261 f., Z. 44-51) Vor allfälliger Majestäts-
beleidigung schreckt N. nicht mehr zurück, als er elf Jahre später, am 10. 12.
1888 gegenüber Ferdinand Avenarius, für sich in Anspruch nimmt, er habe
schon in Menschliches, Allzumenschliches „decadence und Berninismus im Stil
W(agner)'s" kritisiert (KSB 8, Nr. 1184, S. 518, Z. 26). Zur angeblichen lyrischen
Adaption eines Werkes von Bernini in N.s „Nachtlied" siehe NK KSA 6, 341, 3-
7.
47, 11-13 Ich kenne nur Einen Musiker, der heute noch im Stande ist, eine
Ouvertüre aus ganzem Holze zu schnitzen: und Niemand kennt ihn...]
Gemeint ist Heinrich Köselitz alias Peter Gast, vgl. N.s Brief an ihn vom 09. 08.
1888: „Einmal habe ich mir sogar erlaubt, auf Sie anzuspielen: in einer Form,
die hoffentlich Ihren Beifall hat!" (KSB 8, Nr. 1082, S. 382, Z. 10-12) Die fragli-
che Ouvertüre ist diejenige zu Köselitz' komischer Oper Der Löwe von Venedig
(1884).
47, 19-23 was liegt noch an Johannes Brahms!... Sein Glück war ein deutsches
Missverständniss: man nahm ihn als Antagonisten Wagner's, — man brauchte
einen Antagonisten! — Das macht keine nothwendige Musik, das macht vor
Allem zu viel Musik!] Wagner selbst hat sich seinem Komponisten-Kollegen
Johannes Brahms (1833-1897) gegenüber stets sehr abfällig geäußert — ein
Faktum, das N. bereits in NL 1874, KSA 7, 32[32], 765, 1-3 zu kritischer Reflexion
Anlass bot: „Der Tyrann lässt keine andre Individualität gelten als die seinige
und die seiner Vertrauten. Die Gefahr für Wagner ist gross, wenn er Brahms
usw. nicht gelten lässt". Diese Aufzeichnung steht in einem unmittelbaren bio-
graphischen Kontext: Am 9. Juni 1874 hatte N. im Basler Münster erstmals
Brahms' Triumphlied gehört und war am 12. Juli 1874 sogar nach Zürich gefah-
ren, um das Werk noch einmal zu hören. Über das erste Brahms-Erlebnis
schrieb er am 14. Juni 1874 an Rohde: „In der letzten Zeit war Dein Landsmann
Brahms hier, und ich habe viel von ihm gehört, vor allem sein Triumphlied,
das er selbst dirigirte. Es war mir eine der schwersten aesthetischen Gewissens-
Proben, mich mit Brahms auseinanderzusetzen; ich habe jetzt ein Meinung-
chen über diesen Mann. Doch noch sehr schüchtern" (KSB 4, Nr. 371, S. 236,
Z. 9-14). Bald versuchte N., das Werk den Wagners in Tribschen schmackhaft
Marchesi seien „les Bernin de la musique vocale"). In seinem Brief vom 29. 07.
1877 an Carl Fuchs spricht N. über Wagners Rhythmik, wozu er meint: „Mitun-
ter — aber es ist vielleicht crimen laesae majestatis — fällt mir die Manier
Bernini's ein, der auch die Säule nicht mehr einfach erträgt, sondern sie von
unten bis oben durch Voluten wie er glaubt lebendig macht. Unter den
gefährlichen Nachwirkungen W(agner)'s scheint mir ,das Lebendig-machen-
wollen um jeden Preis' eine der gefährlichsten: denn blitzschnell wird's
Manier, Handgriff." (KSB 5, Nr. 640, S. 261 f., Z. 44-51) Vor allfälliger Majestäts-
beleidigung schreckt N. nicht mehr zurück, als er elf Jahre später, am 10. 12.
1888 gegenüber Ferdinand Avenarius, für sich in Anspruch nimmt, er habe
schon in Menschliches, Allzumenschliches „decadence und Berninismus im Stil
W(agner)'s" kritisiert (KSB 8, Nr. 1184, S. 518, Z. 26). Zur angeblichen lyrischen
Adaption eines Werkes von Bernini in N.s „Nachtlied" siehe NK KSA 6, 341, 3-
7.
47, 11-13 Ich kenne nur Einen Musiker, der heute noch im Stande ist, eine
Ouvertüre aus ganzem Holze zu schnitzen: und Niemand kennt ihn...]
Gemeint ist Heinrich Köselitz alias Peter Gast, vgl. N.s Brief an ihn vom 09. 08.
1888: „Einmal habe ich mir sogar erlaubt, auf Sie anzuspielen: in einer Form,
die hoffentlich Ihren Beifall hat!" (KSB 8, Nr. 1082, S. 382, Z. 10-12) Die fragli-
che Ouvertüre ist diejenige zu Köselitz' komischer Oper Der Löwe von Venedig
(1884).
47, 19-23 was liegt noch an Johannes Brahms!... Sein Glück war ein deutsches
Missverständniss: man nahm ihn als Antagonisten Wagner's, — man brauchte
einen Antagonisten! — Das macht keine nothwendige Musik, das macht vor
Allem zu viel Musik!] Wagner selbst hat sich seinem Komponisten-Kollegen
Johannes Brahms (1833-1897) gegenüber stets sehr abfällig geäußert — ein
Faktum, das N. bereits in NL 1874, KSA 7, 32[32], 765, 1-3 zu kritischer Reflexion
Anlass bot: „Der Tyrann lässt keine andre Individualität gelten als die seinige
und die seiner Vertrauten. Die Gefahr für Wagner ist gross, wenn er Brahms
usw. nicht gelten lässt". Diese Aufzeichnung steht in einem unmittelbaren bio-
graphischen Kontext: Am 9. Juni 1874 hatte N. im Basler Münster erstmals
Brahms' Triumphlied gehört und war am 12. Juli 1874 sogar nach Zürich gefah-
ren, um das Werk noch einmal zu hören. Über das erste Brahms-Erlebnis
schrieb er am 14. Juni 1874 an Rohde: „In der letzten Zeit war Dein Landsmann
Brahms hier, und ich habe viel von ihm gehört, vor allem sein Triumphlied,
das er selbst dirigirte. Es war mir eine der schwersten aesthetischen Gewissens-
Proben, mich mit Brahms auseinanderzusetzen; ich habe jetzt ein Meinung-
chen über diesen Mann. Doch noch sehr schüchtern" (KSB 4, Nr. 371, S. 236,
Z. 9-14). Bald versuchte N., das Werk den Wagners in Tribschen schmackhaft