182 Der Fall Wagner
der grösste Künstler seiner Zeit [...]. Er überschattet denn auch alle Folgenden
dergestalt, dass es überflüssig ist, ihren Stylnuancen näher nachzugehen; wo
sie bedeutend sind, da sind sie es innerhalb seines Styles." (Burckhardt 1869a,
2, 691) Wenn N. in MA I 161, KSA 2, 151, 1-5 das Ansinnen abweist, die „Güte
eines Kunstwerks" danach zu bemessen, ob es „uns ergreift, erschüttert", dann
zieht er ausdrücklich Bernini als Beispiel heran, dem er zwar zubilligt, „im
Reiche der bildenden Kunst" mehr „ergriffen und entzückt" zu haben als
irgendein anderer Künstler, den er aber offensichtlich nicht für einen großen
Künstler hält. Mit dieser negativen Einschätzung bewegt sich N. im Fahrwasser
der zeitgenössischen Kritik, namentlich des Cicerone von Jacob Burckhardt,
der als Hauptkennzeichen des Bernini-Stils zwei Elemente namhaft macht: „1)
den Naturalismus der Formen und der Auffassung des Gesche-
henden [...]; die Anwendung des Affectes um jeden Preis" (Burckhardt
1869a, 2, 691; auf der Seite Anstreichungen von N.s Hand). Bei der Darstellung
und Qualifikation der einzelnen Werke wird deutlich, dass die Ablehnung von
Berninis Stil im 19. Jahrhundert weit verbreitet gewesen sein muss, siehe z. B.
ebd., 693: „Auch seine Behandlung der menschlichen Gestalt im all-
gemeinen ist mit Recht verrufen [...]. Jugendlichen und idealen Körpern gab
er ein weiches Fett, das allen wahren Bau unsichtbar macht und durch glän-
zende Politur vollends widerlich wird. [...] Den heroischen und Charakterfigu-
ren gab Bernini eine prahlerische Musculatur, die [...] aber nicht den Aus-
druck wahrer elastischer Kraft hervorbringt, sondern aufgedunsenen Bälgen
gleichsieht." Schließlich sei die „Gewandung [...] vollends eine wahrhaft
traurige Seite dieses Styles" (ebd., 694). Vollends vernichtend wird Burckhardts
Analyse da, wo sie auf Berninis Versuch zu sprechen kommt, der erstarrt anti-
kisierenden Renaissance-Plastik Leben einzuhauchen: „Welches war nun der
Affect, dem zu Liebe Bernini die ewigen Gesetze der Drapirung so bereitwil-
lig preisgab? [...] Genug, dass nunmehr ein falsches dramatisches Leben in die
Sculptur fährt, dass sie mit der Darstellung des blossen Seins nicht mehr
zufrieden ist und um jeden Preis ein Thun darstellen will [...]. Ging man aber
so weit, so war auch die plastische Composition überhaupt nicht mehr zu
retten. Die so schwer errungene Einsicht in die formalen Bedingungen, unter
welchen allein die Statue schön sein kann, das Bewusstsein des architektoni-
schen Gesetzes, welches diese stoffgebundene Gattung allein beschützt und
beseelt — dies ging für anderthalb Jahrhunderte verloren." (Ebd., 696) Heraus
kommen nach Burckhardt bei diesen Voraussetzungen beispielsweise in der
Sakralskulptur „sehnsüchtige Devotion und Passivität, mit Güte oder Gewalt
in das Momentane und Dramatische übersetzt" (ebd., 698).
Die Übertragung dieser Stilanalyse auf die Musik liegt nahe — schon Sten-
dhal hatte in der Musik ,Berninis' gefunden (Stendhal 1854b, 494: Mayer und
der grösste Künstler seiner Zeit [...]. Er überschattet denn auch alle Folgenden
dergestalt, dass es überflüssig ist, ihren Stylnuancen näher nachzugehen; wo
sie bedeutend sind, da sind sie es innerhalb seines Styles." (Burckhardt 1869a,
2, 691) Wenn N. in MA I 161, KSA 2, 151, 1-5 das Ansinnen abweist, die „Güte
eines Kunstwerks" danach zu bemessen, ob es „uns ergreift, erschüttert", dann
zieht er ausdrücklich Bernini als Beispiel heran, dem er zwar zubilligt, „im
Reiche der bildenden Kunst" mehr „ergriffen und entzückt" zu haben als
irgendein anderer Künstler, den er aber offensichtlich nicht für einen großen
Künstler hält. Mit dieser negativen Einschätzung bewegt sich N. im Fahrwasser
der zeitgenössischen Kritik, namentlich des Cicerone von Jacob Burckhardt,
der als Hauptkennzeichen des Bernini-Stils zwei Elemente namhaft macht: „1)
den Naturalismus der Formen und der Auffassung des Gesche-
henden [...]; die Anwendung des Affectes um jeden Preis" (Burckhardt
1869a, 2, 691; auf der Seite Anstreichungen von N.s Hand). Bei der Darstellung
und Qualifikation der einzelnen Werke wird deutlich, dass die Ablehnung von
Berninis Stil im 19. Jahrhundert weit verbreitet gewesen sein muss, siehe z. B.
ebd., 693: „Auch seine Behandlung der menschlichen Gestalt im all-
gemeinen ist mit Recht verrufen [...]. Jugendlichen und idealen Körpern gab
er ein weiches Fett, das allen wahren Bau unsichtbar macht und durch glän-
zende Politur vollends widerlich wird. [...] Den heroischen und Charakterfigu-
ren gab Bernini eine prahlerische Musculatur, die [...] aber nicht den Aus-
druck wahrer elastischer Kraft hervorbringt, sondern aufgedunsenen Bälgen
gleichsieht." Schließlich sei die „Gewandung [...] vollends eine wahrhaft
traurige Seite dieses Styles" (ebd., 694). Vollends vernichtend wird Burckhardts
Analyse da, wo sie auf Berninis Versuch zu sprechen kommt, der erstarrt anti-
kisierenden Renaissance-Plastik Leben einzuhauchen: „Welches war nun der
Affect, dem zu Liebe Bernini die ewigen Gesetze der Drapirung so bereitwil-
lig preisgab? [...] Genug, dass nunmehr ein falsches dramatisches Leben in die
Sculptur fährt, dass sie mit der Darstellung des blossen Seins nicht mehr
zufrieden ist und um jeden Preis ein Thun darstellen will [...]. Ging man aber
so weit, so war auch die plastische Composition überhaupt nicht mehr zu
retten. Die so schwer errungene Einsicht in die formalen Bedingungen, unter
welchen allein die Statue schön sein kann, das Bewusstsein des architektoni-
schen Gesetzes, welches diese stoffgebundene Gattung allein beschützt und
beseelt — dies ging für anderthalb Jahrhunderte verloren." (Ebd., 696) Heraus
kommen nach Burckhardt bei diesen Voraussetzungen beispielsweise in der
Sakralskulptur „sehnsüchtige Devotion und Passivität, mit Güte oder Gewalt
in das Momentane und Dramatische übersetzt" (ebd., 698).
Die Übertragung dieser Stilanalyse auf die Musik liegt nahe — schon Sten-
dhal hatte in der Musik ,Berninis' gefunden (Stendhal 1854b, 494: Mayer und