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Adolf Mayee:
durch unsere Gewalt über Natur und Umgebung, unsere Lebensmög-
lichkeiten größer werden. Darauf ist alle Tätigkeit des gemeinen Lebens
zurückzuführen und — das Dasein des Banausen erschöpft sich in
denselben.
Oder aber man verbraucht die verfertigten Gegenstände nicht um
der Notdurft und des direkten Nutzens wegen, man liest die Bücher,
hört die Vorträge nicht um des Wissens willen, das durch sie erworben
wird, sondern man hört und gebraucht sie gerne, weil unsere Stimmung
dadurch verändert wird in der Richtung der Heiterkeit.1) In diesem
Falle handelt es sich um Kunst. Einen dritten Fall gibt es überhaupt
nicht, wohl aber zahllose Gemische beider Kategorien, deren Analyse
nicht immer ganz einfach ist.
Und nun ergeben sich die folgenden einfachen Regeln. Jedes Kunst-
werk muß sein:
1. Wahrscheinlich. Deshalb muß der Künstler eine genaue
Kenntnis der Natur und dazu mit dem besonderen künstlerischen Ge-
dächtnis begabt sein, daß diese Kenntnis ihm jederzeit zu Gebot steht.
Dazu dient das Studium der Natur, das Aktzeichnen, Skizzieren usw.,
und das Resultat ist das technische Können.
Die Kunst muß 2. in irgendeinem Punkte über die Wirklichkeit
erhaben, idealisiert sein. Zu diesem Zwecke muß der Künstler auch
Phantasie haben und auch in dieser Beziehung über sein Publikum
hervorragen. Er muß demselben eine Illusion aufzunötigen imstande
sein. Da aber allmählich das Publikum in dieser letzteren Beziehung
den Künstler einholt, zwar nicht in betreff seiner schöpferischen Phan-
tasie, aber geholfen durch die des Künstlers, die Illusion genießt, sodann
aber erschöpft, so findet im Laufe der Zeiten eine Wanderung des Ideals
statt von der Quantität zur Qualität, vom Stoffe zur Kraft, vom Gröbern
zum Feinem, und zwischen jedem Aufschwung zu einer neuen Illusion
kommt eine Periode des Niedergangs der Phantasie, der kleinbürger-
lichen Ehrlichkeit, der philiströsen Nüchternheit, die man gemeinhin als
Naturalistik bezeichnet. Besser sagen wir Realistik, um nicht den Namen
Natur in zwei einander scheinbar widersprechenden Bedeutungen zu
gebrauchen. In dieser Periode bleibt nur die zuerst genannte Eigenschaft
des Künstlers und gilt dann oft als die einzig maßgebende.
Außer dem Können, das mühsam erlernt werden muß, und der
Einbildungskraft, die eine unveräußerliche Naturgabe ist, muß aber der
ß C’est la röle de l’artiste de creer le soleil, lorsqu’il n’y en a pas.
Romain Rolland.
Adolf Mayee:
durch unsere Gewalt über Natur und Umgebung, unsere Lebensmög-
lichkeiten größer werden. Darauf ist alle Tätigkeit des gemeinen Lebens
zurückzuführen und — das Dasein des Banausen erschöpft sich in
denselben.
Oder aber man verbraucht die verfertigten Gegenstände nicht um
der Notdurft und des direkten Nutzens wegen, man liest die Bücher,
hört die Vorträge nicht um des Wissens willen, das durch sie erworben
wird, sondern man hört und gebraucht sie gerne, weil unsere Stimmung
dadurch verändert wird in der Richtung der Heiterkeit.1) In diesem
Falle handelt es sich um Kunst. Einen dritten Fall gibt es überhaupt
nicht, wohl aber zahllose Gemische beider Kategorien, deren Analyse
nicht immer ganz einfach ist.
Und nun ergeben sich die folgenden einfachen Regeln. Jedes Kunst-
werk muß sein:
1. Wahrscheinlich. Deshalb muß der Künstler eine genaue
Kenntnis der Natur und dazu mit dem besonderen künstlerischen Ge-
dächtnis begabt sein, daß diese Kenntnis ihm jederzeit zu Gebot steht.
Dazu dient das Studium der Natur, das Aktzeichnen, Skizzieren usw.,
und das Resultat ist das technische Können.
Die Kunst muß 2. in irgendeinem Punkte über die Wirklichkeit
erhaben, idealisiert sein. Zu diesem Zwecke muß der Künstler auch
Phantasie haben und auch in dieser Beziehung über sein Publikum
hervorragen. Er muß demselben eine Illusion aufzunötigen imstande
sein. Da aber allmählich das Publikum in dieser letzteren Beziehung
den Künstler einholt, zwar nicht in betreff seiner schöpferischen Phan-
tasie, aber geholfen durch die des Künstlers, die Illusion genießt, sodann
aber erschöpft, so findet im Laufe der Zeiten eine Wanderung des Ideals
statt von der Quantität zur Qualität, vom Stoffe zur Kraft, vom Gröbern
zum Feinem, und zwischen jedem Aufschwung zu einer neuen Illusion
kommt eine Periode des Niedergangs der Phantasie, der kleinbürger-
lichen Ehrlichkeit, der philiströsen Nüchternheit, die man gemeinhin als
Naturalistik bezeichnet. Besser sagen wir Realistik, um nicht den Namen
Natur in zwei einander scheinbar widersprechenden Bedeutungen zu
gebrauchen. In dieser Periode bleibt nur die zuerst genannte Eigenschaft
des Künstlers und gilt dann oft als die einzig maßgebende.
Außer dem Können, das mühsam erlernt werden muß, und der
Einbildungskraft, die eine unveräußerliche Naturgabe ist, muß aber der
ß C’est la röle de l’artiste de creer le soleil, lorsqu’il n’y en a pas.
Romain Rolland.