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Weizsäcker, Viktor; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1934, 4. Abhandlung): Wege psychophysischer Forschung: Festrede bei der Stiftungsfeier der Akademie am 3. Juni 1934 — Heidelberg, 1934

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https://doi.org/10.11588/diglit.43676#0006
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Viktor v. Weizsäcker

man unglücklich sich auch ausdrückte, „ganzheitlichen“ Funktionen.
Was also als Beispiel möglichst einfacher Struktur- und Funktions-
einheit erschienen war, begriff man jetzt als gleichgewichtartige
Resultante einer viel beweglicher gedachten Fülle funktionell ver-
bundener Strukturen. Wo Phänomene so elementar oder konstant
schienen, da mußten sie in Wahrheit soeben erst erzeugt worden
sein, als Sonderfall des Gleichgewichtes vieler konkurrierender
Kräfte. Die Tätigkeit des Organes ist dann ein beständiges Her-
vorbringen, eine natura naturans liegt jener natura naturata des
Phänomens zum Grunde.
Es ist das Wesen elementaranalytischen Denkens, daß das
verschieden Gestaltete aus der wechselnden Verbindung der Ele-
mente erklärbar wird. Wenn bei den biologischen Leistungen
das synthetische Prinzip versagte, so war dies entscheidend. Denn
die Forderung der Analyse zieht nach sich die der Synthese.
Dies ist ungefähr gleichbedeutend mit der Frage, ob man einen
Zustand zureichend aus dem ihm vorangegangenen ableiten könne.
Tatsächlich ist der Versuch gemacht worden, die Sinneswahr-
nehmung synthetisch zu behandeln. Man darf von dem Ergebnis
sagen, der Versuch sei bis zu dem Punkte gelungen, bis zu
welchem wir auch die Bedingungen der Umwelt analytisch und
synthetisch behandeln können. Dann aber stieß man auf die Tat-
sache, daß gerade Organismen trotz überaus wechselnder Um-
weltbedingungen einen immer gleichen Erfolg der Leistung zu-
standezubringen vermögen. In ihren Bewegungen erreichen sie
das gleiche Ziel auf unzähligen Wegen. In ihren Wahrnehmungen
erkennen sie das gleiche Ding trotz seiner verschiedensten Er-
scheinungsweise. Hier lag wieder die Grenze der Analyse. Wenn
dies geschieht und wir nicht zu übernatürlicher Hilfe flüchten
wollen, muß gefolgert werden, daß wir die Leistung nicht auf
die richtigen Ursachen zurückgeführt haben. Es war ein Irrtum,
von Ortswerten der Netzhaut in Bezug auf die Wahrnehmung
des Räumlichen zu sprechen, ein vergebliches Bemühen, auf sie
eine räumliche Synthesis der wahrgenommenen Raumfigur im
Organ zu begründen. Die Netzhaut liefert uns die Wahrnehmung
eines Quadrates nicht, weil es als Quadrat auf ihr abgebildet ist,
sondern weil eine produktive Tätigkeit der nervösen Substanz,
die recht leicht zu stören ist, stattfindet. Es war dann fehlerhaft,
anzunehmen, diese physiologische Tätigkeit sei selbst vergleichbar
mit der geometrischen Operation, mit der das Denken ein Quadrat
 
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