Wege psychophysischer Forschung
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konstruiert. Die organische Tätigkeit resultiert in dem Bilde, aber
sie ist von anderer Art als das mathematische Konstruieren selbst.
Scheint das auch fast trivial, so hat doch die Physiologie der
Wahrnehmung sich durch Jahrzehnte darum bemüht. Aber auch
hier ergab sich, daß mit der Reduktion des organischen Systems
das, was man für elementar gehalten hatte, nämlich die seit
Lotze’s Lokalzeichen vermuteten Ortswerte (aber auch die Zeit-
und Intensitätswerte), nicht elementar und nicht einzubauen war
in einen psychophysischen Parallelismus. Vielmehr zeigten gerade
die pathologischen Fälle wieder, daß die angeblichen Elementar-
leistungen die höchsten Anforderungen an Masse, Differenzierung
und Zusammenarbeit der zentral-nervösen Substanzen und Funk-
tionen stellen. Was man elementar genannt hatte, schien das
Komplexe zu sein, was man Integration genannt hatte, schien
ungefähr als das letzte im Abbau übrig zu bleiben. Die cerebrale
Agnosie besteht nicht darin, daß wir Punkte nicht mehr zu Strecken,
Strecken nicht mehr zu Figuren synthetisieren können, sondern
umgekehrt darin, daß wir die allgemeinste Dinghaftigkeit nicht
mehr zur Form, die Form nicht mehr zum Formelemente diffe-
renzieren können. Das Gestaltete ist widerstandsfähiger als das
Elementare, es ist in der organischen Leistung das Primäre. Wir
haben hier nicht etwa eine begriffsspekulative These vor uns,
sondern die konkrete Tatsache, daß eine experimentelle Zerlegung
oder Zertrümmerung in die vermuteten Elementarfunktionen ein-
fach mißlungen ist und statt dessen eine nicht zu bändigende
Kraft der Gestaltung des Inhaltes der Wahrnehmung erscheint.
Sowohl der Versuch, Sinnesleistungen in Elementarempfindungen
zu zerlegen, wie der Versuch, motorische Leistungen wie Gehen,
Stehen, Laufen, Springen, Schwimmen in einfachere Reflexe zu
zerlegen, aus denen sie alle aufzubauen wären, reichte genau
so weit, als man die Variation der auferlegten Bedingungen
treiben konnte. Während aber die Chemie dann neue Verbin-
dungen mit neuen Eigenschaften, die Physik neue Effekte dar-
stellen konnte, ist ein solches bei den Organismen nicht gelungen.
Die Physiologie des Zentralnervensystems lehrte uns also nicht
ein Prinzip der Synthese, sondern ein Prinzip der Reduktion von
Leistungen kennen. Die Naturwissenschaften antworten auf die
Frage: welche Kräfte sind vorhanden, um eine bestimmte Wir-
kung zu erzielen, die Biologie antwortet auf die Frage: welche
Kräfte waren wirksam, um eine bestimmte Leistung zu verhindern.
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konstruiert. Die organische Tätigkeit resultiert in dem Bilde, aber
sie ist von anderer Art als das mathematische Konstruieren selbst.
Scheint das auch fast trivial, so hat doch die Physiologie der
Wahrnehmung sich durch Jahrzehnte darum bemüht. Aber auch
hier ergab sich, daß mit der Reduktion des organischen Systems
das, was man für elementar gehalten hatte, nämlich die seit
Lotze’s Lokalzeichen vermuteten Ortswerte (aber auch die Zeit-
und Intensitätswerte), nicht elementar und nicht einzubauen war
in einen psychophysischen Parallelismus. Vielmehr zeigten gerade
die pathologischen Fälle wieder, daß die angeblichen Elementar-
leistungen die höchsten Anforderungen an Masse, Differenzierung
und Zusammenarbeit der zentral-nervösen Substanzen und Funk-
tionen stellen. Was man elementar genannt hatte, schien das
Komplexe zu sein, was man Integration genannt hatte, schien
ungefähr als das letzte im Abbau übrig zu bleiben. Die cerebrale
Agnosie besteht nicht darin, daß wir Punkte nicht mehr zu Strecken,
Strecken nicht mehr zu Figuren synthetisieren können, sondern
umgekehrt darin, daß wir die allgemeinste Dinghaftigkeit nicht
mehr zur Form, die Form nicht mehr zum Formelemente diffe-
renzieren können. Das Gestaltete ist widerstandsfähiger als das
Elementare, es ist in der organischen Leistung das Primäre. Wir
haben hier nicht etwa eine begriffsspekulative These vor uns,
sondern die konkrete Tatsache, daß eine experimentelle Zerlegung
oder Zertrümmerung in die vermuteten Elementarfunktionen ein-
fach mißlungen ist und statt dessen eine nicht zu bändigende
Kraft der Gestaltung des Inhaltes der Wahrnehmung erscheint.
Sowohl der Versuch, Sinnesleistungen in Elementarempfindungen
zu zerlegen, wie der Versuch, motorische Leistungen wie Gehen,
Stehen, Laufen, Springen, Schwimmen in einfachere Reflexe zu
zerlegen, aus denen sie alle aufzubauen wären, reichte genau
so weit, als man die Variation der auferlegten Bedingungen
treiben konnte. Während aber die Chemie dann neue Verbin-
dungen mit neuen Eigenschaften, die Physik neue Effekte dar-
stellen konnte, ist ein solches bei den Organismen nicht gelungen.
Die Physiologie des Zentralnervensystems lehrte uns also nicht
ein Prinzip der Synthese, sondern ein Prinzip der Reduktion von
Leistungen kennen. Die Naturwissenschaften antworten auf die
Frage: welche Kräfte sind vorhanden, um eine bestimmte Wir-
kung zu erzielen, die Biologie antwortet auf die Frage: welche
Kräfte waren wirksam, um eine bestimmte Leistung zu verhindern.