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Weizsäcker, Viktor; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1934, 4. Abhandlung): Wege psychophysischer Forschung: Festrede bei der Stiftungsfeier der Akademie am 3. Juni 1934 — Heidelberg, 1934

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https://doi.org/10.11588/diglit.43676#0008
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Viktor v. Weizsäcker

Wir erfahren also durch die Analyse niemals, warum ein Mensch
etwas kann, sondern nur, warum er es nicht kann. Die Dinge liegen
praktisch also umgekehrt wie sie Kant in der Kritik der Urteils-
kraft geschildert hat: ein zweckmäßiges Verfahren gestatten uns
nur die analytischen Naturwissenschaften, sie befähigen uns zum
zweckvollen Bau der Maschine. Ein solches Verfahren erreicht
die Biologie des lebenden Organismus niemals, seine Analyse hat
nicht zweckhafte Folgen, es ist lediglich zu erklärendem Gebrauche
bestimmt. Die naturwissenschaftliche Erforschung der Lebewesen
erhellt daher im tiefsten Sinne nur ihre Pathologie; vor dem
Lebenden selbst bleibt sie docta ignorantia.
Aber diese docta ignorantia hat nichts zu schaffen mit dem
Ignorabimus einer in ihrem Wissen sich im Grunde recht wohl
gefallenden Epoche. Es konnte zunächst nicht ausbleiben, daß
man der Elementaranalyse folgend doch auch der produktiven
Fähigkeit der Organismen einen Namen geben, sie gleichsam
domestizieren und dem analytischen Prinzip anzupassen suchte.
Dies nun geschah durch den Rückgriff auf das Psychische. Hatte
man begriffen, daß ein kletternder Affe, ein tanzendes Paar nicht
Reflexmaschinen sind, daß wir, wären wir Reflexmaschinen,
sogar nach wenigen Tagen verlorene Leute wären, so bot sich
der Ausweg an: psychische Faktoren seien es, welche in das
organische Geschehen eingriffen und z. B. die Anpassung und
Regulierung unserer Bewegungen besorgten. Der Tabiker war
offenbar so ungeschickt, weil ihm die feinen Gelenkempfindungen
fehlen, die dem Gesunden erlauben, bei Nacht über den holperigen
Sturzacker zu gehen. Allein weder die Selbstbeobachtung noch
das Experiment erwies solche psychophysische Causalerklärung
als haltbar. Diese Gelenkempfindungen waren vorhanden, aber
nicht immer, sie waren keine conditio sine qua non. Man wandte
sich daher zur Annahme unbewußter Empfindungen, welche
regulieren sollen, und unvermerkt stand jetzt die Physiologie vor
jenem Begriffe des Unbewußten, der nicht erst seit Freud, sondern
seit Schelling die Biologie in Atem hielt. Hatte doch auch Helm-
holtz in seiner physiologischen Optik seine Zuflucht zu unbe-
wußten Urteilen und Schlüssen genommen. Als Ergebnis aber
dieser vielfachen Forschungen bleibt, daß die dem Bewußtsein
deutlich gegebene Empfindung sich überhaupt nicht einfach als
Glied in die causale Kette des körperlichen Zustandekommens
von Wahrnehmungen und Bewegungen einfügen läßt. Die Emp-
 
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