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Viktor v. Weizsäcker
Reiz sich ändert; denken wir dabei z. B. an die sogen. Vexier-
bilder, an die optische „Inversion“, den Kitzel. Die berühmte
Schule Pawlows hat andererseits ihre Hauptaufgabe darin ge-
sehen, zu zeigen, wie durch bestimmte Gewöhnungen neue Reflexe,
besonders im Gebiete der inneren Organe dadurch gestiftet wer-
den können, daß man die Tiere darauf einstellt, ihre Nahrung
statt auf Geruchs- und Gesichtsreize auf Glockenzeichen oder
Hautreize zu erwarten; Bewegung und Saftsekretion des Magens
erschienen so einer Dressur unterwerfbar. Was freilich Pawlow
hier bedingten Reflex nannte, das war trotz seines Sträubens eben
im Grunde die Durchbrechung des Reflektorischen durch ganz
besondere psychophysische Verhältnisse. Denn bei Pawlows
Hunden ging es etwa nach dem Sprichwort: gebrannte Kinder
scheuen das Feuer, oder auch nach dem anderen: wer einmal
Blut geleckt hat. Wir wollen damit ausdrücken, daß Anziehung
sich in Abstoßung, daß Greifreflex sich in Fluchtreflex verwandeln
kann unter einer ganz bestimmten Bedingung: wenn nämlich eine
leidenschaftliche Erregung gewisser Größe, sei es der Lust oder
Unlust, der Liebe oder des Hasses eingebrochen ist. Gestalt-
wandel der Wahrnehmungen und Bewegungen ist also besonders
geknüpft an die Vermittlung der Affekte. Und hier war es nun
vor allem auch die klinische Forschung mit ihren Bereichen der
inneren Organe, des Herzens, der Gefäße, der Verdauungswerk-
zeuge u. s. f., der die Aufgabe zufiel, zu zeigen, daß gewisse
Symptombildungen nichts anderes sind als Verschiebungen psy-
chophysischer Repräsentanz. So kann man, um an Bekanntes zu
erinnern, sehen, wie die Repräsentanz der Angst, die sonst Herz-
beschleunigung ist, unter der Wirkung neuer Konstellation sich
auf Erbrechen oder auf verstärkte Darmperistaltik verschieben
kann. Aber nicht nur Neurosen, sondern Infektionskrankheiten,
Krämpfe bei Geschwüren und Steinen, Hormonausschüttungen, Men-
struation, Konzeption u. v. a. erwies sich als vielfach verknüpft mit
leidenschaftlichen Ereignissen und Krisen des Erlebens. Jenes der
Psychophysik verlorene Gebiet der inneren Leiborgane war damit
wiedergewonnen, und die Einschränkung auf neutrale Empfin-
dungen überwunden. Wer hier weiterging, dem konnte nicht ent-
gehen, daß mit solchen Wendungen des Gefühlslebens eine Pola-
rität oder Gegensätzlichkeit, ein Verhältnis des sich gegenseitigen
Ausschließens und zugleich Bindens gegeben war, dessen Bedeu-
tung zunächst unklar blieb. Denn hier lag etwas, was die Forscher
Viktor v. Weizsäcker
Reiz sich ändert; denken wir dabei z. B. an die sogen. Vexier-
bilder, an die optische „Inversion“, den Kitzel. Die berühmte
Schule Pawlows hat andererseits ihre Hauptaufgabe darin ge-
sehen, zu zeigen, wie durch bestimmte Gewöhnungen neue Reflexe,
besonders im Gebiete der inneren Organe dadurch gestiftet wer-
den können, daß man die Tiere darauf einstellt, ihre Nahrung
statt auf Geruchs- und Gesichtsreize auf Glockenzeichen oder
Hautreize zu erwarten; Bewegung und Saftsekretion des Magens
erschienen so einer Dressur unterwerfbar. Was freilich Pawlow
hier bedingten Reflex nannte, das war trotz seines Sträubens eben
im Grunde die Durchbrechung des Reflektorischen durch ganz
besondere psychophysische Verhältnisse. Denn bei Pawlows
Hunden ging es etwa nach dem Sprichwort: gebrannte Kinder
scheuen das Feuer, oder auch nach dem anderen: wer einmal
Blut geleckt hat. Wir wollen damit ausdrücken, daß Anziehung
sich in Abstoßung, daß Greifreflex sich in Fluchtreflex verwandeln
kann unter einer ganz bestimmten Bedingung: wenn nämlich eine
leidenschaftliche Erregung gewisser Größe, sei es der Lust oder
Unlust, der Liebe oder des Hasses eingebrochen ist. Gestalt-
wandel der Wahrnehmungen und Bewegungen ist also besonders
geknüpft an die Vermittlung der Affekte. Und hier war es nun
vor allem auch die klinische Forschung mit ihren Bereichen der
inneren Organe, des Herzens, der Gefäße, der Verdauungswerk-
zeuge u. s. f., der die Aufgabe zufiel, zu zeigen, daß gewisse
Symptombildungen nichts anderes sind als Verschiebungen psy-
chophysischer Repräsentanz. So kann man, um an Bekanntes zu
erinnern, sehen, wie die Repräsentanz der Angst, die sonst Herz-
beschleunigung ist, unter der Wirkung neuer Konstellation sich
auf Erbrechen oder auf verstärkte Darmperistaltik verschieben
kann. Aber nicht nur Neurosen, sondern Infektionskrankheiten,
Krämpfe bei Geschwüren und Steinen, Hormonausschüttungen, Men-
struation, Konzeption u. v. a. erwies sich als vielfach verknüpft mit
leidenschaftlichen Ereignissen und Krisen des Erlebens. Jenes der
Psychophysik verlorene Gebiet der inneren Leiborgane war damit
wiedergewonnen, und die Einschränkung auf neutrale Empfin-
dungen überwunden. Wer hier weiterging, dem konnte nicht ent-
gehen, daß mit solchen Wendungen des Gefühlslebens eine Pola-
rität oder Gegensätzlichkeit, ein Verhältnis des sich gegenseitigen
Ausschließens und zugleich Bindens gegeben war, dessen Bedeu-
tung zunächst unklar blieb. Denn hier lag etwas, was die Forscher