6
LeoKoenigsberger:
zum Teil auf der für alle Zeiten unvergänglichen Basis seines
großen Lehrers KANT.
Hochansehnliche Versammlung! Als Laie und unsicherer
Läufer auf dem schwankenden und gefahrvollen Boden speku-
lativer Philosophie darf ich es nicht wagen, Ihnen meine An-
sicht über den psychologisch-anthropologischen Kritizismus von
FRIES darzulegen, der in seiner Neuen Kritik der Vernunft bis-
weilen in einen unverkennbaren Gegensatz tritt zur Kritik der
reinen Vernunft von KANT; aber ich darf es auch nicht unter-
lassen, wenigstens einige der Grundlehren der FRiEs'schen
Philosophie anzudeuten, da seine später zu besprechenden
mathematisch - naturphilosophischen Anschauungen wesentlich
auf diesen Grundlagen beruhen.
Es gibt nach KANT Erkenntnisse a priori, für FniES
existiert nur ein' apriorisches Erkenntnisvermögen;
während KANT mit Hilfe der apriorischen Anschauungen von
Raum und Zeit an die Objekte der Sinnenwelt, an deren Form
und Gestalt herantritt, mit Hilfe der apriorischen Begriffe, wie
Causalität und Stetigkeit, die Natur der Dinge zu erforschen
sucht, ist FRIES ganz Empirist, aber im edelsten Sinne des
Wortes. Er unterscheidet eine äußere und innere Erfahrung,
aus der sich alle Erkenntnis herleitet; so wenig wie K.ANT will
er aus reiner Logik Erkenntnis schaffen, sondern die Wahrheit
durch sichere Deduktion feststellen; er will auch nicht alles
Wissen aus der Einheit entwickeln wie FiCHTE und SüHELLiNG,
welche von der Form unserer Vernunft ausgehen und alles
auf der Reaktion dieser Form gegen die sinnlichen Eindrücke
basieren wollen. Ihm ist die Vernunft eine Erregbarkeit,
welche nur durch Affektionen zu Lehensäußerungen bestimmt
werden kann. Äußere sinnliche oder innere Erfahrung soll zu-
nächst nur in ganz unklarer, ja unbewußter Weise unsere Ver-
nunft zur Tätigkeit anregen. Nicht wir treten an die Außenwelt
heran, sondern die Objekte äußerer und innerer Erfahrung
affizieren unsere Vernunft. Mit jedem Denkakt, sagt im Geiste
der HERBART'sehen Schule RiEMANN, einer der größten Mathe-
matiker des vorigen Jahrhunderts, tritt etwas Bleibendes in
unsere Seele ein, welches sich bei besonderen Anlässen, wie
durch die Erinnerung, als solches kundgibt, aber auf die Er-
scheinungswelf, aus welcher sie völlig verschwindet, keinen
dauernden Einfluß mehr ausübt. Vermöge der unserer Vernunft
LeoKoenigsberger:
zum Teil auf der für alle Zeiten unvergänglichen Basis seines
großen Lehrers KANT.
Hochansehnliche Versammlung! Als Laie und unsicherer
Läufer auf dem schwankenden und gefahrvollen Boden speku-
lativer Philosophie darf ich es nicht wagen, Ihnen meine An-
sicht über den psychologisch-anthropologischen Kritizismus von
FRIES darzulegen, der in seiner Neuen Kritik der Vernunft bis-
weilen in einen unverkennbaren Gegensatz tritt zur Kritik der
reinen Vernunft von KANT; aber ich darf es auch nicht unter-
lassen, wenigstens einige der Grundlehren der FRiEs'schen
Philosophie anzudeuten, da seine später zu besprechenden
mathematisch - naturphilosophischen Anschauungen wesentlich
auf diesen Grundlagen beruhen.
Es gibt nach KANT Erkenntnisse a priori, für FniES
existiert nur ein' apriorisches Erkenntnisvermögen;
während KANT mit Hilfe der apriorischen Anschauungen von
Raum und Zeit an die Objekte der Sinnenwelt, an deren Form
und Gestalt herantritt, mit Hilfe der apriorischen Begriffe, wie
Causalität und Stetigkeit, die Natur der Dinge zu erforschen
sucht, ist FRIES ganz Empirist, aber im edelsten Sinne des
Wortes. Er unterscheidet eine äußere und innere Erfahrung,
aus der sich alle Erkenntnis herleitet; so wenig wie K.ANT will
er aus reiner Logik Erkenntnis schaffen, sondern die Wahrheit
durch sichere Deduktion feststellen; er will auch nicht alles
Wissen aus der Einheit entwickeln wie FiCHTE und SüHELLiNG,
welche von der Form unserer Vernunft ausgehen und alles
auf der Reaktion dieser Form gegen die sinnlichen Eindrücke
basieren wollen. Ihm ist die Vernunft eine Erregbarkeit,
welche nur durch Affektionen zu Lehensäußerungen bestimmt
werden kann. Äußere sinnliche oder innere Erfahrung soll zu-
nächst nur in ganz unklarer, ja unbewußter Weise unsere Ver-
nunft zur Tätigkeit anregen. Nicht wir treten an die Außenwelt
heran, sondern die Objekte äußerer und innerer Erfahrung
affizieren unsere Vernunft. Mit jedem Denkakt, sagt im Geiste
der HERBART'sehen Schule RiEMANN, einer der größten Mathe-
matiker des vorigen Jahrhunderts, tritt etwas Bleibendes in
unsere Seele ein, welches sich bei besonderen Anlässen, wie
durch die Erinnerung, als solches kundgibt, aber auf die Er-
scheinungswelf, aus welcher sie völlig verschwindet, keinen
dauernden Einfluß mehr ausübt. Vermöge der unserer Vernunft