Metadaten

Reitzenstein, Richard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1912, 12. Abhandlung): Zur Sprache der lateinischen Erotik — Heidelberg, 1912

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.32887#0030
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
30

Richard Reitzensiein :

bei Catull wechseln in Freundschaft und Liebe leidenschaftiiche Be-
geisterung und ieidenschaftiicher Haß und Rachsucht, überschwäng-
liches Glücksgefüht und überschwängiicher Schmerz gieich rasch.
Manches ist dabei zunächst gewib konventionehe Forrn, und niemand
wird bestreiten, dah die sittliche Verwiiderung der städtisciien Ju-
gend dieser Zeit sein Emphnden und seine Sprache stark beeinfluht
hat. Wird das Gefühl stärker, so tritt aisbaid auch das sittliche
Eiement hinzu, das jenern Treuverhältnis von Anfang an innewohnt;
nur in diesemTreuverhäitnis hat es sich wirklicherhaltenA°) Hier
kornrnt dann die ursprüngliche Reinheit und Innigkeit der von der
herrschenden Frivolität irn Grunde doch unberührten Jünglingsnatur
zum Vorschein, ohne die ein solches Erleben überhaupt undenkbar
wäre, und ohne die Catuli nicht wahrhaft zu verstehen ist. Es ist
nicht wahr, dab nur das (iuarfier wie es sich ein mit Welt-
kunde prunkender Ausleger denkt, das Verständnis für das Innerste
Catulls erschliei3t. Dem tief sittlichen Empfinden, das in seinen
reifsten Liedern waltet, kommt man dadurch nicht näher; gerade
es hebt Catull so unendiich hoch über die Griechen.
Mitwirkt natürlich ein anderes: die zwei Menschenalter der
Revolution bringen dem Rörner die Befreiung und Ausbiidung der
Persönlichkeit, an der frühzeitig auch die Frauen teilnehmen. Als
Persönlichkeiten treten sie gerade in Catulls Zeit im politischen wie
geseilschaftlichen und geistigen Leben hervor; sie sind, selbst wenn
sie sich verschenken, doch etwas ganz anderes als jene wiilfährigen
Halbweltdamen der hellenistischen Großstädte, von denen die grie-
chischen Dichter nur berichten können. Ein /be&is ist bei
jenen undenkbar, bei der Römerin nicht. Für sie hat auherdem
gerade damals die Ehe die bindende Kraft fast ganz verloren; dab
sie für den Mann jederzeit löslich ist und ihn, auch wenn sie be-
steht, nicht zur Treue verbindet, raubt ihr den Wert. Die ästhetische
Freude an der Leidenschaft als der starken und darurn schönen
Empfindung ist durch die Rhetorik und Modedichtung allgemein ge-
worden. So mag die 'Freundschaft' zwischen Mann und Weib nicht
als Ersatz, nein, sogar trotz ihrer Geheimhaltung oder gerade durch
dieselbe als innerlichere und höhere Forrn der Ehe erscheinen. Mit
dieser hat sie vor allern das einegemeinsam, daf3sieausschlief3-
lich sein will, was die Freundschaft zwischenMännern ja niemals

Ein moraiisches Empßnden für den Ehebruch kann man hei Catuit
kaum spüren.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften