I. Das Diatessaron uncl seine Bedeutung für die Textkritik der Evangelien. 11
deren Schlitz erstarkt, hatte sich auf seine Eigenart besonnen 'und
war aus der Enge des Konventikelwesens herausgetreten auf den
Markt des Lehens, um den Wettbewerb mit den dort ringenden
Weltanschauungen aufzunehmen. Man würde sich gewiß ein
ganz falsches Bild von der geistigen Höhenlage der römischen Ge-
meinde in dieser Zeit machen, wenn man etwa den ungefähr zu
derselben Zeit entstandenen oder doch abgeschlossenen Hirten
des Hermas ats ein kennzeichnendes Erzeugnis ihres Geistes an-
sehen wollte.22) Der Mangel an Geschmack, die Unbehilflichkeit
der Ausdrucksweise, die Unfähigkeit, verwickeltere Gedanken-
reihen durchzUdenken, verbunden mit der unbekümmerten Leich-
tigkeit, Überliefertes auch1 da, wo es unvereinbar ist, äußerlich
zusammenzupressen, mag bezeichnend sein für gewisse Kreise
der römischen Gemeinde; sie als Kennzeichen des kirchlichen
Geisteslebens zu fassen, wäre dennoch eine schwere Täuschung,
um so schwerer, als der Hirte selbst noch die Möglichkeit bietet,
ein zutreffenderes Bild der Gemeindezustände zu gewinnen. Denn
wenn er auch in erster Linie mit seinen Gedanken um die Ver-
folgungsnöte der Kirche, den Abfall, die Verleugnung und den Ver-
rat beschäftigt ist, so hat er doch in den spätesten Teilen seines
Buches23) (Sinn IX 18 ff.) auch die inneren Schwierigkeiten in Be-
tracht gezogen. Aber was er hier gegen die Gnostiker sagt, zeigt
doch deutlich, daß die Bewegung damals noch in ziemlich kirchen-
freundlichen Bahnen verlaufen sein muß, jedenfalls in ihrer Be-
22) Die in dem Buch sich deutlich widerspiegelnden Gemeindeverhältnisse,
die schweren Verfolgungen mit ihrem massenhaften Abfall, ein reichliches Maß
von „Verweltlichung“ innerhalb der Gemeinde, das Auftreten von Rigoristen, die
den Getauften jede Buße verwehren, und von Libertinisten, die mit der Geduld
Gottes ihr Spiel treiben, das Auftauchen der gnostischen Bewegung — alle diese
Gesichtspunkte machen es unmöglich, den Hirten in seiner jetzigen Gestalt in
das erste Viertel des zweiten Jahrhunderts zu versetzen. Das Buch wird, je näher es
an die Mitte des Jahrhunderts herangerückt wird, um so leichter verständlich.
Vgl. dazu H. Weinel in Henneckes Apokryphen des N. T. 1904-, S. 253 ff. und die
Einzelnachweise in den Anmerkungen (Handb. z. d. Apokr., 1904, S. 290 ff.).
23) Die Teilungshypothesen, durch die man die zahlreichen und offenkundigen
Widersprüche zu beseitigen gesucht hat, scheitern an der Unmöglichkeit, den
Schriftsteller mit den sonst üblichen logischen und literarischen Maßstäben zu
messen. Daß das Buch nicht in einem Zug geschrieben ist, darf als ausgemacht
gelten. Oh sich die neueste Hypothese einer das Ursprüngliche teilweise besei-
tigenden Überarbeitung (Grosse-Brauckmann, De pastore Herrnae, Diss. 1913)
besser durchzusetzen vermag, ist aus den eben geltend gemachten Gründen
zweifelhaft.
deren Schlitz erstarkt, hatte sich auf seine Eigenart besonnen 'und
war aus der Enge des Konventikelwesens herausgetreten auf den
Markt des Lehens, um den Wettbewerb mit den dort ringenden
Weltanschauungen aufzunehmen. Man würde sich gewiß ein
ganz falsches Bild von der geistigen Höhenlage der römischen Ge-
meinde in dieser Zeit machen, wenn man etwa den ungefähr zu
derselben Zeit entstandenen oder doch abgeschlossenen Hirten
des Hermas ats ein kennzeichnendes Erzeugnis ihres Geistes an-
sehen wollte.22) Der Mangel an Geschmack, die Unbehilflichkeit
der Ausdrucksweise, die Unfähigkeit, verwickeltere Gedanken-
reihen durchzUdenken, verbunden mit der unbekümmerten Leich-
tigkeit, Überliefertes auch1 da, wo es unvereinbar ist, äußerlich
zusammenzupressen, mag bezeichnend sein für gewisse Kreise
der römischen Gemeinde; sie als Kennzeichen des kirchlichen
Geisteslebens zu fassen, wäre dennoch eine schwere Täuschung,
um so schwerer, als der Hirte selbst noch die Möglichkeit bietet,
ein zutreffenderes Bild der Gemeindezustände zu gewinnen. Denn
wenn er auch in erster Linie mit seinen Gedanken um die Ver-
folgungsnöte der Kirche, den Abfall, die Verleugnung und den Ver-
rat beschäftigt ist, so hat er doch in den spätesten Teilen seines
Buches23) (Sinn IX 18 ff.) auch die inneren Schwierigkeiten in Be-
tracht gezogen. Aber was er hier gegen die Gnostiker sagt, zeigt
doch deutlich, daß die Bewegung damals noch in ziemlich kirchen-
freundlichen Bahnen verlaufen sein muß, jedenfalls in ihrer Be-
22) Die in dem Buch sich deutlich widerspiegelnden Gemeindeverhältnisse,
die schweren Verfolgungen mit ihrem massenhaften Abfall, ein reichliches Maß
von „Verweltlichung“ innerhalb der Gemeinde, das Auftreten von Rigoristen, die
den Getauften jede Buße verwehren, und von Libertinisten, die mit der Geduld
Gottes ihr Spiel treiben, das Auftauchen der gnostischen Bewegung — alle diese
Gesichtspunkte machen es unmöglich, den Hirten in seiner jetzigen Gestalt in
das erste Viertel des zweiten Jahrhunderts zu versetzen. Das Buch wird, je näher es
an die Mitte des Jahrhunderts herangerückt wird, um so leichter verständlich.
Vgl. dazu H. Weinel in Henneckes Apokryphen des N. T. 1904-, S. 253 ff. und die
Einzelnachweise in den Anmerkungen (Handb. z. d. Apokr., 1904, S. 290 ff.).
23) Die Teilungshypothesen, durch die man die zahlreichen und offenkundigen
Widersprüche zu beseitigen gesucht hat, scheitern an der Unmöglichkeit, den
Schriftsteller mit den sonst üblichen logischen und literarischen Maßstäben zu
messen. Daß das Buch nicht in einem Zug geschrieben ist, darf als ausgemacht
gelten. Oh sich die neueste Hypothese einer das Ursprüngliche teilweise besei-
tigenden Überarbeitung (Grosse-Brauckmann, De pastore Herrnae, Diss. 1913)
besser durchzusetzen vermag, ist aus den eben geltend gemachten Gründen
zweifelhaft.