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Preuschen, Erwin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1918, 15. Abhandlung): Untersuchungen zum Diatessaron Tatians — Heidelberg, 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.37677#0019
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I. Das Diatessaron und seine Bedeutung für die Textkritik der Evangelien. 19
Welche Not die Ausleger, seit sie mit wissenschaftlichen Anfor-
derungen an ihre Aufgabe herantraten, mit diesen Widersprüchen
hatten, hat Origenes nicht nur deutlich empfunden, sondern auch
unverhohlen ausgesprochen.38) Sie entgingen den Schwierigkeiten
nur dadurch, daß sie die Einzelheiten allegorisch umdeuteten.
Die allegorischen Deutungen waren unbegrenzt, ein weites Feld,
das Scharfsinn und Vorstellungskraft mit den luftigen Gestalten
ihrer Ideen bevölkern konnten. Und diese Ideen waren dann nicht
mehr in Gefahr, sich zu stoßen, wie die rauhen Wirklichkeiten.
Angesichts dieser Schwierigkeiten, die entstehen mußten, sobald
die Gemeinden zu selbständigem geistigen Leben erwachten, ist
es eine nicht mit dem Hinweis auf eine uralte Überlieferung bei-
seite zu schiebende Frage, wie die Kirche zu diesem Zustand ge-
langt sei. Denn damit, daß man diese Überlieferung als Uralt
bezeichnet, verlegt man den Schwerpunkt nur etwas weiter nach
rückwärts, ohne daß man die Frage löst.
Aber die Vierzahl der Evangelienbücher als Zeugnis des
einen Evangeliums ist nicht die einzige Schwierigkeit, die sich
bemerkbar machen mußte, sobald sich die Kirche nachdenkend
ihrer eignen Vergangenheit bemächtigte. Die Kirche war unzer-
trennlich von der Überlieferung, die, von Geschlecht zu Geschlecht
sich fortspinnend, die spätere Zeit mit den Ursprüngen ver-

38) Origenes, Comm. in ev. loh. X 1, 2 ff.; bes. § 10: <παραστατέον δε>
την περί τούτων άλήθειαν άποκεΐσθαι έν τοΐς νοητοϊς -<διά τό πολλοΰς> μή
λυόμενης τής διαφωνίας άψεΐσθαι τής περί τών ευαγγελίων πίστεως, ως ουκ
άληθών ουδέ θειοτέρψ πνεύματι γεγραμμένων ή έτητετευγμένως άπομνημονευ-
•θέντων1 έκατέρως γάρ λέγεται συντετϋχθαι ή τούτων γραφή. Diese Worte
geben ein vollkommen deutliches Bild von den Schwierigkeiten, in die der Exeget
geraten mußte, der die Schriften als heilige Schriften auf den einen Geist zurück-
führen sollte und dennoch gezwungen war, eine Lösung für die Widersprüche
zu finden. Was Irenäus unbedacht als eine Stütze hatte empfehlen wollen —
vier Bücher, aber ein Geist —, führte zwei Menschenalter später bereits zu der
bedenklichen Umkehrung der Fragestellung: warum vier Bücher, wenn es ein
Geist istV Des Origenes wissenschaftliches Gewissen war empfindlich genug, an
dieser Frage nicht stillschweigend vorüberzugehen, sondern er hat sich ehrlich
bemüht, mit den Mitteln seiner Zeit eine Lösung zu finden, die es ihm gestattete,
nicht zum Schwindler zu werden. Man mag sich manchmal entsetzen über die
bodenlose Willkür seiner allegorischen Methode: er selbst hat sie gewiß so zuver-
sichtlich und mit so gutem Gewissen gehandhabt, wie ein moderner Interpret
die grammatisch-historische. Ygl. zu der Frage meine Erörterung über die Exegese
des Origenes und ihre Quellen in der Einleitung zu meiner Ausgabe des Johannes-
kommentars, 1903, S. LXXXII ff.

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