Platons Stellung zu den Aufgaben der Naturwissenschaft.
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die Seele durch ihre eigenen Bewegungen, die man Wollen, Er-
wägen, Sorgetragen, Ratschlagen, richtig oder falsch Mutmaßen,
Freude, Trauer, Zuversicht, Furcht, Haß, Liebe usw. nennt1.
Solche und ähnliche Bewegungen sind nämlich die ursprünglichen,
die dann die ersten Bewegungen zweiter Ordnung in den Körpern
an sich schließen und damit alles zu Wachstum, Abnahme, Schei-
dung und Verbindung bringen, deren weitere Folgen Erwärmung
und Abkühlung, Schwere und Leichtigkeit, Weiß und Schwarz,
Herb und Süß . . . sind.“2 Wie Platon sich den Übergang von
der unsinnlichen αρχή zu Sinnlichem denkt, das kann ich
nicht sagen. Aber darüber werden wir von ihm auch keine Rechen-
schaft fordern, in dem ernüchternden Bewußtsein, daß auch unsere
Forscher uns noch nichts Klares darüber zu bieten vermögen.
Der Ausdruck freilich bei Platon ist nicht glücklich und hat irre
führen können. Und daß er die geistigen Regungen überhaupt
dem Begriff der Bewegung einordnet, hat die Klärung dieses
Begriffs erschwert und ist für die physikalische Forschung gewiß
ein Hemmnis gewesen.
Im übrigen tritt gerade auch bei Erörterung des Bewegungs-
begriffs in staunenerregender Weise wieder an den Tag, wie wenig
Platons Blick durch herkömmliche Denkgewohnheiten und herr-
schende Meinungen eingeengt wird und wie er, durch solche ganz
unbeirrt, teils aus den Theorien älterer Physiker sich aneignet3,
1 Theait. 153b werden μάθησις und μελέτη unter die κινήσεις gerechnet.
2 άγει . . . ψυχή πάντα . . . ταΐς αύτής κινήσεσιν . . ., δσαι . . . προοτουργοί
κινήσεις τάς δευτερουργούς αύ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτινν άγουσι πάντα εις
αυξησιν καί φθίσιν καί διάκρισιν καί σύγκρισιν καί τούτοις έπομένας θερμότητας,
ψύξεις κτλ. Dem τάς δευτερουργούς παραλαμβάνουσαι κινήσεις entspricht wohl
oben jenes dunkle λαβοϋσα αυξην. Ich meine, in diesen zwei Wörtern liege
an und für sich nichts weiter als das Fortschreiten eines Anstoßes oder die
Entwicklung eines Keims, die das Wort αρχή schon andeutete. Denn Anfang
gibt es nur da, wo auch ein Fortgang ist, also bei einer Entwicklung, einem
Geschehen. Und so möchte ich das άρχή λαβουσα αυξην übersetzen „ein
sich entwickelndes Prinzip.“
3 Die Frage, wie weit Platon in naturwissenschaftlichen
Lehren von an deren abhängig, wie weit er selb ständig sei,
scheint mir heute noch nicht spruchreif, bedarf vielmehr noch mancher
gründlichen und umfassenden Vorarbeit. Namentlich sein Verhältnis zu
Demokritos scheint mir noch durchaus nicht ganz geklärt. Ich vermute,
Platon sei diesem gegenüber viel selbständiger als heute angenommen
wird. Ich möchte an folgendes erinnern: Platon selber spricht aus,
daß er Anregungen zu seiner Lqhre von der αί'σθησις von Herakleitos
und namentlich von Protagoras erhalten habe. Es ist aber sicher, daß
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die Seele durch ihre eigenen Bewegungen, die man Wollen, Er-
wägen, Sorgetragen, Ratschlagen, richtig oder falsch Mutmaßen,
Freude, Trauer, Zuversicht, Furcht, Haß, Liebe usw. nennt1.
Solche und ähnliche Bewegungen sind nämlich die ursprünglichen,
die dann die ersten Bewegungen zweiter Ordnung in den Körpern
an sich schließen und damit alles zu Wachstum, Abnahme, Schei-
dung und Verbindung bringen, deren weitere Folgen Erwärmung
und Abkühlung, Schwere und Leichtigkeit, Weiß und Schwarz,
Herb und Süß . . . sind.“2 Wie Platon sich den Übergang von
der unsinnlichen αρχή zu Sinnlichem denkt, das kann ich
nicht sagen. Aber darüber werden wir von ihm auch keine Rechen-
schaft fordern, in dem ernüchternden Bewußtsein, daß auch unsere
Forscher uns noch nichts Klares darüber zu bieten vermögen.
Der Ausdruck freilich bei Platon ist nicht glücklich und hat irre
führen können. Und daß er die geistigen Regungen überhaupt
dem Begriff der Bewegung einordnet, hat die Klärung dieses
Begriffs erschwert und ist für die physikalische Forschung gewiß
ein Hemmnis gewesen.
Im übrigen tritt gerade auch bei Erörterung des Bewegungs-
begriffs in staunenerregender Weise wieder an den Tag, wie wenig
Platons Blick durch herkömmliche Denkgewohnheiten und herr-
schende Meinungen eingeengt wird und wie er, durch solche ganz
unbeirrt, teils aus den Theorien älterer Physiker sich aneignet3,
1 Theait. 153b werden μάθησις und μελέτη unter die κινήσεις gerechnet.
2 άγει . . . ψυχή πάντα . . . ταΐς αύτής κινήσεσιν . . ., δσαι . . . προοτουργοί
κινήσεις τάς δευτερουργούς αύ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτινν άγουσι πάντα εις
αυξησιν καί φθίσιν καί διάκρισιν καί σύγκρισιν καί τούτοις έπομένας θερμότητας,
ψύξεις κτλ. Dem τάς δευτερουργούς παραλαμβάνουσαι κινήσεις entspricht wohl
oben jenes dunkle λαβοϋσα αυξην. Ich meine, in diesen zwei Wörtern liege
an und für sich nichts weiter als das Fortschreiten eines Anstoßes oder die
Entwicklung eines Keims, die das Wort αρχή schon andeutete. Denn Anfang
gibt es nur da, wo auch ein Fortgang ist, also bei einer Entwicklung, einem
Geschehen. Und so möchte ich das άρχή λαβουσα αυξην übersetzen „ein
sich entwickelndes Prinzip.“
3 Die Frage, wie weit Platon in naturwissenschaftlichen
Lehren von an deren abhängig, wie weit er selb ständig sei,
scheint mir heute noch nicht spruchreif, bedarf vielmehr noch mancher
gründlichen und umfassenden Vorarbeit. Namentlich sein Verhältnis zu
Demokritos scheint mir noch durchaus nicht ganz geklärt. Ich vermute,
Platon sei diesem gegenüber viel selbständiger als heute angenommen
wird. Ich möchte an folgendes erinnern: Platon selber spricht aus,
daß er Anregungen zu seiner Lqhre von der αί'σθησις von Herakleitos
und namentlich von Protagoras erhalten habe. Es ist aber sicher, daß