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ConstanTin Ritter:
Theaitetos und den Nomoi besonders große Bedeutung zuer-
kannt sehen1.
Gerade für die Entwicklungsgeschichte des Begriffs der
Irrationalität ist der Theaitetos eine besonders ergiebige Quelle2.
Er führt uns den Träger der Titelrolle vor als einen Jüngling,
kaum dem Knabenalter entwachsen, und läßt ihn uns folgendes
erzählen: ,,Theodoros hatte uns eine Zeichnung von Quadraten
entworfen, um von den Quadraten von 3 und 5 Quadratfuß
Fläche nachzuweisen, daß ihre Seitenlängen durch die Seite des
Einheitsquadrats nicht meßbar sind. So hatte er jedes einzeln
vorgenommen bis zu dem von 17 Quadratfuß. Bei diesem war er
zufällig stehen geblieben. Da nun die Quadrate an Menge un-
begrenzt schienen, kam uns der Gedanke, wir wollten versuchen,
die Besonderheit aller dieser Quadrate in einem einzigen Ausdruck
zusammenzufassen. Wir teilten die gesamte Zahlenmasse in zwei
Gruppen. Die Zahlen, die als Produkte gleicher Faktoren auf-
gefaßt werden können, verglichen wir ihrer Form nach mit dem
Quadrat und nannten sie quadratisch und gleichseitig. Die da-
zwischen liegenden Zahlen aber, zu denen die Drei und Fünf ge-
hört, die nicht das Produkt gleicher Faktoren ist, sondern entweder
aus der Multiplikation einer größeren Zahl mit einer kleineren
oder einer kleineren mit einer größeren entsteht, und die immer
von einer größeren und einer kleineren Seite umspannt werden,
verglichen wir ihrerseits mit der Figur des Rechtecks und nannten
sie Rechteckszahlen . . . Weiter . . . definierten wir alle Linien,
über denen sich Quadrate errichten lassen, deren Maß zahlen selber
Quadratzahlen sind, als Längen; die aber Rechteckzahlen liefern,
als Potenzen, da sie durch ihre Länge nicht gemeinsamen Maßes
mit jenen sind, sondern nur durch die über ihnen errichteten
Flächen“ (d. h. potenziert). „Und ähnliche Festsetzungen trafen
1 Zeuthen, Die Mathematik im Altertum und Mittelalter, 1912 (Kultur
d. Gegenw. III, 1), S. 33f. zeigt, daß die in der euldeidischen Geometrie „mit
absoluter Konsequenz durchgeführte Rücksichtnahme auf die Existenz
irrationaler Größen“ und das stetige Bemühen, zu zeigen, daß solche geome-
trisch genau darstellbar seien, „die Entdeckung des Irrationalen als Ausgangs-
punkt für die Bildung des Systems erkennen lassen“, das bis in die neuere
Zeit herein die alleinige sichere Grundlage der gesamten exakten Mathematik,
der Algebra so gut wie der Geometrie, geblieben ist.
2 Vogt in der Biblioth. mathem. X, 1910, S. 131 stellt die These auf:
„Die mathematische Stelle im Theätet ist die Geburtsurkunde des Irrationalen,
ausgestellt von einem Zeitgenossen.“ (Vgl. oben S. 35 A.)
ConstanTin Ritter:
Theaitetos und den Nomoi besonders große Bedeutung zuer-
kannt sehen1.
Gerade für die Entwicklungsgeschichte des Begriffs der
Irrationalität ist der Theaitetos eine besonders ergiebige Quelle2.
Er führt uns den Träger der Titelrolle vor als einen Jüngling,
kaum dem Knabenalter entwachsen, und läßt ihn uns folgendes
erzählen: ,,Theodoros hatte uns eine Zeichnung von Quadraten
entworfen, um von den Quadraten von 3 und 5 Quadratfuß
Fläche nachzuweisen, daß ihre Seitenlängen durch die Seite des
Einheitsquadrats nicht meßbar sind. So hatte er jedes einzeln
vorgenommen bis zu dem von 17 Quadratfuß. Bei diesem war er
zufällig stehen geblieben. Da nun die Quadrate an Menge un-
begrenzt schienen, kam uns der Gedanke, wir wollten versuchen,
die Besonderheit aller dieser Quadrate in einem einzigen Ausdruck
zusammenzufassen. Wir teilten die gesamte Zahlenmasse in zwei
Gruppen. Die Zahlen, die als Produkte gleicher Faktoren auf-
gefaßt werden können, verglichen wir ihrer Form nach mit dem
Quadrat und nannten sie quadratisch und gleichseitig. Die da-
zwischen liegenden Zahlen aber, zu denen die Drei und Fünf ge-
hört, die nicht das Produkt gleicher Faktoren ist, sondern entweder
aus der Multiplikation einer größeren Zahl mit einer kleineren
oder einer kleineren mit einer größeren entsteht, und die immer
von einer größeren und einer kleineren Seite umspannt werden,
verglichen wir ihrerseits mit der Figur des Rechtecks und nannten
sie Rechteckszahlen . . . Weiter . . . definierten wir alle Linien,
über denen sich Quadrate errichten lassen, deren Maß zahlen selber
Quadratzahlen sind, als Längen; die aber Rechteckzahlen liefern,
als Potenzen, da sie durch ihre Länge nicht gemeinsamen Maßes
mit jenen sind, sondern nur durch die über ihnen errichteten
Flächen“ (d. h. potenziert). „Und ähnliche Festsetzungen trafen
1 Zeuthen, Die Mathematik im Altertum und Mittelalter, 1912 (Kultur
d. Gegenw. III, 1), S. 33f. zeigt, daß die in der euldeidischen Geometrie „mit
absoluter Konsequenz durchgeführte Rücksichtnahme auf die Existenz
irrationaler Größen“ und das stetige Bemühen, zu zeigen, daß solche geome-
trisch genau darstellbar seien, „die Entdeckung des Irrationalen als Ausgangs-
punkt für die Bildung des Systems erkennen lassen“, das bis in die neuere
Zeit herein die alleinige sichere Grundlage der gesamten exakten Mathematik,
der Algebra so gut wie der Geometrie, geblieben ist.
2 Vogt in der Biblioth. mathem. X, 1910, S. 131 stellt die These auf:
„Die mathematische Stelle im Theätet ist die Geburtsurkunde des Irrationalen,
ausgestellt von einem Zeitgenossen.“ (Vgl. oben S. 35 A.)