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Constantin Ritter:
Gefühl kann der Mensch Wertabstufungen machen. Dann wäre
der anthropozentrische Standpunkt (den man dem Timaios vor-
werfen möchte und über den sich die Theodicee der Nomoi zu
erheben scheint) unvermeidlich für menschliche Beurteiler. Unver-
meidlich ist wohl auch die Frage, ob durch die tatsächliche Ein-
richtung der Welt im ganzen unser Wohl gefördert wird oder nicht.
(Wir können überhaupt in keinem Augenblick uns bloß theoretisch
verhalten!) Der Glaube, daß dies der Fall sei, ist Optimismus, der
entgegengesetzte ist Pessimismus. Anthropozentrisch aber sind
sie beide.
Mit Recht freilich verlangt die Naturwissenschaft ihrerseits,
daß für die Erscheinungen, mit denen sie sich beschäftigt, kein
Erklärungsprinzip herangezogen werde, dessen man nicht unum-
gänglich bedarf, und daß ihr ihre Forschungsweise durch teleolo-
gische Betrachtungen nicht gestört und verkümmert werde1.
Die ionischen φυσιολόγοι haben einst die Natur entgöttert, ent-
geistet und eben damit einer Wissenschaft von der Natur erst
Raum geschaffen. Aber die Beseitigung der Götter war nur darum
notwendig, weil diese Menschen gleich, als mit Willkür schaltend,
nach wechselnden Launen in den Gang der Dinge eingreifend vor-
gestellt wurden. Beim Walten solcher Mächte ließ sich nicht an
Gesetze des Geschehens denken, konnte man nur eben das Wunder-
bare erzählen, das ein Gott getan haben sollte, nicht nachsinnend
sein Wirken aus Tatsachen berechnen. Platon will zwar die Welt,
wie es alte Mythen getan haben, aus Gott herleiten. Jedoch er
faßt seinen Gottesbegriff so, daß jedenfalls keine Störung durch
Zwecksetzungen des göttlichen Geistes zu erwarten ist. Er spricht
mehrfach von einer θεία ανάγκη, einer Notwendigkeit, die auch die
Götter (Gott) bindet. So ist es ihm selbstverständlich, daß Gott
nichts wollen oder tun könnte, das nicht vollkommen gut wäre. In
diesem Punkt wird wohl der christliche Gottesbegriff vollständig mit
dem platonischen (und, vgl. Nachtrag, auch dem stoischen) überein-
stimmen; aber nicht so allgemein werden wohl die christlichen Den-
1 Kant hat sich die Naturwissenschaftler günstig gestimmt durch die
bekannte Erklärung: „Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zer-
gliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses
mit der Zeit gehen werde“ (Amph. d. Refl. Begr. S. 251 Kehrb.), und durch
die Versicherung, daß niemals von seiten des religiösen Glaubens ein Ein-
spruch in das davon völlig getrennte Gebiet der Erfahrungserkenntnis er-
folgen dürfe.
Constantin Ritter:
Gefühl kann der Mensch Wertabstufungen machen. Dann wäre
der anthropozentrische Standpunkt (den man dem Timaios vor-
werfen möchte und über den sich die Theodicee der Nomoi zu
erheben scheint) unvermeidlich für menschliche Beurteiler. Unver-
meidlich ist wohl auch die Frage, ob durch die tatsächliche Ein-
richtung der Welt im ganzen unser Wohl gefördert wird oder nicht.
(Wir können überhaupt in keinem Augenblick uns bloß theoretisch
verhalten!) Der Glaube, daß dies der Fall sei, ist Optimismus, der
entgegengesetzte ist Pessimismus. Anthropozentrisch aber sind
sie beide.
Mit Recht freilich verlangt die Naturwissenschaft ihrerseits,
daß für die Erscheinungen, mit denen sie sich beschäftigt, kein
Erklärungsprinzip herangezogen werde, dessen man nicht unum-
gänglich bedarf, und daß ihr ihre Forschungsweise durch teleolo-
gische Betrachtungen nicht gestört und verkümmert werde1.
Die ionischen φυσιολόγοι haben einst die Natur entgöttert, ent-
geistet und eben damit einer Wissenschaft von der Natur erst
Raum geschaffen. Aber die Beseitigung der Götter war nur darum
notwendig, weil diese Menschen gleich, als mit Willkür schaltend,
nach wechselnden Launen in den Gang der Dinge eingreifend vor-
gestellt wurden. Beim Walten solcher Mächte ließ sich nicht an
Gesetze des Geschehens denken, konnte man nur eben das Wunder-
bare erzählen, das ein Gott getan haben sollte, nicht nachsinnend
sein Wirken aus Tatsachen berechnen. Platon will zwar die Welt,
wie es alte Mythen getan haben, aus Gott herleiten. Jedoch er
faßt seinen Gottesbegriff so, daß jedenfalls keine Störung durch
Zwecksetzungen des göttlichen Geistes zu erwarten ist. Er spricht
mehrfach von einer θεία ανάγκη, einer Notwendigkeit, die auch die
Götter (Gott) bindet. So ist es ihm selbstverständlich, daß Gott
nichts wollen oder tun könnte, das nicht vollkommen gut wäre. In
diesem Punkt wird wohl der christliche Gottesbegriff vollständig mit
dem platonischen (und, vgl. Nachtrag, auch dem stoischen) überein-
stimmen; aber nicht so allgemein werden wohl die christlichen Den-
1 Kant hat sich die Naturwissenschaftler günstig gestimmt durch die
bekannte Erklärung: „Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zer-
gliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses
mit der Zeit gehen werde“ (Amph. d. Refl. Begr. S. 251 Kehrb.), und durch
die Versicherung, daß niemals von seiten des religiösen Glaubens ein Ein-
spruch in das davon völlig getrennte Gebiet der Erfahrungserkenntnis er-
folgen dürfe.