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Brie, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1920, 3. Abhandlung): Exotismus der Sinne: eine Studie zur Psychologie der Romantik — Heidelberg, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.37770#0039
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Exotismus der Sinne.

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malen aufweisen, unter sich aber in gar keinem oder nur in einem
sehr losen Zusammenhänge stehen, bilden die französischen
Exotisten eine mehr in sich geschlossene einheitliche Gruppe.
East alle kennen einander persönlich, lernen voneinander und
bewundern einander. Die Namen Gautier, Flaubert, Le Poittevin,
Bouilhet, Baudelaire, Leconte de Lisle, Soulary, ßanviile, Nerval,
Menard usw. vertreten auch sonst ein in vieler Hinsicht gemein-
sames künstlerisches Programm. Ihre Rolle in der Entwicklung
des Exotismus ist darum so bedeutsam, weil erst sie ihn zu einer
literarisch gangbaren Münze machen, die auch der Außenstehende
aufgreifen kann. Durch sie wird eine Reihe exotistischer Mo-
tive in der gesamten neueren Literatur Europas heimisch. Sieht
man von dem Einfluß von De Quincey und Poe auf Baudelaire
ah, so sind Einwirkungen des englischen Exotismus auf den
französischen kaum vorhanden. Der französische entsteht ebenso
autochthon wie der englische. Auch in Frankreich konnten
exotistische Anlagen sich in dem nüchternen und begeisterungs-
losen Aufklärungszeitalter nicht entwickeln; auch hier schuf erst
die Romantik mit ihrem ennui, ihrer Phantastik, ihrem Interesse
für fernabliegende Kulturen und ihrem Sinn für das Geheimnis-
volle die notwendigen Vorbedingungen. Chateaubriand, dessen
Rene mit seinem ennui und seiner begeisterten Schilderung der
exotischen Natur detm Exotismus bereits sehr nahe kommt, muß
bereits als eiin Vorläufer der Exotisten gelten. Und doch be-
steht insofern ein Unterschied von der Entwicklung in Eng;-
land, als in Frankreich schon während deir Aufklärung durch
Geister wie Helvetius, La Mettrie, Cabanis u. a. m.. eine
epikureische! Geistesrichtung hochgekommen war, die mit
dem Exotismus der französischen Romantik sich verband und
ihm seine eigentümliche Färbung von ästhetischem Immoralis-
mus verlieh. Während den Angelsachsen sein Tatsachensinn
daran gehindert hatte, zum Extrem vorzuschreiten und Tra-
dition, Gegenwart und Umwelt zu negieren oder gar mit Haß zu
verfolgen, war die Konsequenz des Franzosen schon während
des Aufklärungszeitalters zum Extrem, in diesem Falle zum
Atheismus, Epikureismus und zur Negation der herrschenden
Sitte vorgeschritten. Daraus erklärt sich, warum dann in der
französischen Romantik der Exotismus pathetisch und aggressiv
wird. Der Übergang vom Epikureismus des 18. Jahrhunderts
zum romantischen Exotismus zeigt sich deutlich bei Stendhal-
 
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