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O. Gradenwitz:
In der Veröffentlichung verfährt Caprivi notgedrungen „mit
jener Wahrhaftigkeit, die schlimmer ist als die Lüge“, denn die
Zeitungen, die zu ihm halten, ziehen den Schluß: (Kölnische Zei-
tung:) „Setzen wir, wie selbstverständlich, voraus, daß nach den
vom Reichskanzler veröffentlichten Schriftstücken kein weiteres
ergangen ist, das in dieser Sache von wesentlicher Bedeutung
wäre.“ (Königsberger Ztg.:) „DieVeröffentlichung dieser Aktenstücke
hat offenbar den Sinn, daß damit Alles mitgetheilt sein soll, was
seitens des Reichskanzlers gegen den Fürsten Bismarck geschehen
ist.“ Dieser Schluß soll allerdings1 gezogen werden, dafür ist die
Publikation da, aber die getreue Deckung des Kaiserbriefes steht
hier ebenso mit einer höheren Wahrheit in Widerspruch, wie im
Jahre 1890 die Deckung des Kaisers durch Übernahme einer Stellung
der Caprivi sich nicht gewachsen fühlte, mit der politischen Logik2.
Zudem konnte die Wahrheit jeden Tag ans Licht kommen; schim-
mert sie doch durch ein Entrefilet, des Pester Lloyd vom 8. 7.
durch: „Was aber die maßgebenden Stellen in Wien abhielt, auf
den Wunsch des Fürsten einzugehen, ist im „Pester Lloyd“ zur
Genüge dargelegt worden. In hiesigen Kreisen, die ein- für allemal
auf jede Kritik des Verhaltens des Mitbegründers des Reiches im
Stande des Privatmannes verzichtet haben, geht die Lesart, daß
unter den besonderen Mitteln ein 22 Seiten langer Brief des Kaisers
Wilhelm an seinen hohen Verbündeten in Wien gemeint sei. Das
wäre wahrscheinlich der längste Brief, den der Kaiser bisher ge-
schrieben hätte.“ Hier ist in seltsamer Mischung der Brief nach
Bismarcks Entlassung (der etwa so lang war) und der Brief von
1892 contaminirt. Die Auslassung zeigt, daß von dem ersten Brief
etwas transpiriert, und der zweite weiter bekannt war, als nötig.
Auf allerhöchsten Befehl werden Prinz Reuß (auf Urlaub in
Norderney) und Prinz Ratibor (Geschäftsträger in Wien) aufge-
fordert, sich zu äußern, „ob und was ihnen über den Weg, auf dem
der Fürst diese Kenntnis3 erlangt haben könne, bekannt sei oder
1 Qui tacet consentire videtur.
2 Max Weber (Pari. u. Reg. S. 80) verurteilt ingrimmig die unbefugte
öffentlichung kaiserlicher Worte von politischem Belang. Hier ist umge-
kehrt bedenklich, daß eine kaiserliche Willensäußerung politischer Natur ver-
heimlicht worden. Vielleicht ist die Besprechung der Wiener Vorgänge
im Parlament am letzten Ende durch die Bedenken vereitelt worden, wie man
sich dem Kaiserbrief gegenüber zu verhalten habe.
3 „Von der Korrespondenz zwischen Allerhöchstdemselben und des Kaisers
von Österreich-Ungarn Majestät bezüglich des Empfanges des Fürsten in Wien.“
O. Gradenwitz:
In der Veröffentlichung verfährt Caprivi notgedrungen „mit
jener Wahrhaftigkeit, die schlimmer ist als die Lüge“, denn die
Zeitungen, die zu ihm halten, ziehen den Schluß: (Kölnische Zei-
tung:) „Setzen wir, wie selbstverständlich, voraus, daß nach den
vom Reichskanzler veröffentlichten Schriftstücken kein weiteres
ergangen ist, das in dieser Sache von wesentlicher Bedeutung
wäre.“ (Königsberger Ztg.:) „DieVeröffentlichung dieser Aktenstücke
hat offenbar den Sinn, daß damit Alles mitgetheilt sein soll, was
seitens des Reichskanzlers gegen den Fürsten Bismarck geschehen
ist.“ Dieser Schluß soll allerdings1 gezogen werden, dafür ist die
Publikation da, aber die getreue Deckung des Kaiserbriefes steht
hier ebenso mit einer höheren Wahrheit in Widerspruch, wie im
Jahre 1890 die Deckung des Kaisers durch Übernahme einer Stellung
der Caprivi sich nicht gewachsen fühlte, mit der politischen Logik2.
Zudem konnte die Wahrheit jeden Tag ans Licht kommen; schim-
mert sie doch durch ein Entrefilet, des Pester Lloyd vom 8. 7.
durch: „Was aber die maßgebenden Stellen in Wien abhielt, auf
den Wunsch des Fürsten einzugehen, ist im „Pester Lloyd“ zur
Genüge dargelegt worden. In hiesigen Kreisen, die ein- für allemal
auf jede Kritik des Verhaltens des Mitbegründers des Reiches im
Stande des Privatmannes verzichtet haben, geht die Lesart, daß
unter den besonderen Mitteln ein 22 Seiten langer Brief des Kaisers
Wilhelm an seinen hohen Verbündeten in Wien gemeint sei. Das
wäre wahrscheinlich der längste Brief, den der Kaiser bisher ge-
schrieben hätte.“ Hier ist in seltsamer Mischung der Brief nach
Bismarcks Entlassung (der etwa so lang war) und der Brief von
1892 contaminirt. Die Auslassung zeigt, daß von dem ersten Brief
etwas transpiriert, und der zweite weiter bekannt war, als nötig.
Auf allerhöchsten Befehl werden Prinz Reuß (auf Urlaub in
Norderney) und Prinz Ratibor (Geschäftsträger in Wien) aufge-
fordert, sich zu äußern, „ob und was ihnen über den Weg, auf dem
der Fürst diese Kenntnis3 erlangt haben könne, bekannt sei oder
1 Qui tacet consentire videtur.
2 Max Weber (Pari. u. Reg. S. 80) verurteilt ingrimmig die unbefugte
öffentlichung kaiserlicher Worte von politischem Belang. Hier ist umge-
kehrt bedenklich, daß eine kaiserliche Willensäußerung politischer Natur ver-
heimlicht worden. Vielleicht ist die Besprechung der Wiener Vorgänge
im Parlament am letzten Ende durch die Bedenken vereitelt worden, wie man
sich dem Kaiserbrief gegenüber zu verhalten habe.
3 „Von der Korrespondenz zwischen Allerhöchstdemselben und des Kaisers
von Österreich-Ungarn Majestät bezüglich des Empfanges des Fürsten in Wien.“