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Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0007
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Die Utopia des Thomas Morus.

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Diese allgemeinen Betrachtungen möchte ich, bevor ich sie
weiter führe, zunächst an einem konkreten Beispiel verdeutlichen.
Ich wähle dazu eine der berühmtesten Utopien aller Zeiten, die-
jenige, von der der Gattungsname der Utopie überhaupt erst aus-
gegangen ist: die Utopia des Engländers Thomas Morus. Sie ist
seit der Politeia Platos die eindrucksvollste Hervorbringung ihrer
Art und hat, befruchtend und anreizend, als Vorbild nachgewirkt
bis zu Cabets Reise nach Icarien oder William Morris’ ,,News
from Nowhere“, bis zu Bellamy und den Neuesten. Noch in den
letzten Jahren der kommunistischen Wunschbilder und Experi-
mente hat man unter anderem.auch zu diesem erlauchten Namen
zurückgegriffen.
Insbesondere ist die Utopia des Morus eine der denkwürdigsten
Leistungen des politischen Denkens der Renaissance. In diesem
von reichen Zeugungskräften und Gärungsstoffen übersprudeln-
den Zeitalter war auch die Staatslehre unendlich vielen neuen An-
trieben unterworfen: mochten sie nun von der erneuerten Antike
oder aus den vertieften christlichen Idealen herkommen, mochten
sie von den aufregenden Analogien der Entdeckungsliteratur oder
von dem Erlebnis einer neuen Epoche wahrhaft europäischer
Staatengeschichte und Politik befruchtet werden. Alles drängte
darauf hin, von neuem dem ewigen Problem des besten Staates
nachzusinnen, und man findet kaum einen führenden Kopf, der
davon nicht ergriffen wäre. Wir müssen uns nur von dem schul-
mäßigen Begriff der Staatslehre freimachen und die Schranken der
Fachwissenschaft überspringen, um den ganzen Reichtum einer
Produktion, die in jedem Lande die seiner politischen und geistigen
Entwicklungsstufe entsprechende Form wählt, würdigen zu können.
Fast aus demselben Jahre stammen der erste Entwurf des „Prin-
cipe“ des Machiavell, der so häufig irrtümlich als „die“ Staats-
lehre der Renaissance mißverstanden wurde, das englische Gegen-
bild der „Utopia“ und jener Fürstenspiegel, den Erasmus in seiner
„Institutio principis christiani“ aufstellte; nur wenige Jahre darauf
folgt, als ein deutsches Programm, das noch ganz andere Tiefen
aufwühlende Manifest Luthers „An den christlichen Adel deutscher
Nation“.
Es waren die geistigen und religiösen Ideale der Renaissance,
in denen Thomas Morus lebte, vielleicht der feinste und edelste
Kopf des damaligen England; mit dem Fürsten dieser Geistes-
richtung, mit Erasmus war er in enger Gelehrtenfreundschaft ver-
 
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