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Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0009
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Die Utopia des Thomas Morus.

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englisch-niederländischen Handelsvertrag, auf dem Boden der von
Krieg und Diplomatie tief aufgewühlten Kontinentalwelt sind ge-
rade diejenigen Abschnitte von Morus entworfen worden, an die
man heute bei der Utopia in erster Linie denkt: der Aufriß des
kommunistischen Idealstaats im zweiten Teil. Je tiefer er sich und
sein Tun in die Händel dieser Welt verflochten sah, desto lebhafter
bewegte ihn der vertraute Gedanke der Politeia Platos, daß eigent-
lich doch die Weisen die Könige, und die Könige die Weisen sein
sollten. Die neuerwachte europäische Geistigkeit, die sich zu dieser
Forderung zu bekennen wagte, suchte sich des ewigen Staatspro-
blems zu bemächtigen. Morus stand während dieser Monate in an-
regendem Verkehr mit Erasmus, der eben damals seinen verwandten
Gedankengängen entsprungene ,,Institutio principis christiani“ ab-
schloß; gleichzeitig ließ er in Antwerpen die neue Entdeckungs-
literatur mit ihrer seltsamen Mär fremder menschlicher Gemein-
schaften auf sich wirken. Und wenn das eigene Idealbild dem ge-
dankenvollen Manne anfangs vielleicht nur ein geistreiches Spiel
erzwungener Muße sein mochte, so hatte doch die innere Ablehnung
der Welt, in der er stand und der er diente, einen entscheidenden
Anteil an dieser ersten Niederschrift.
Gegen Ende des Jahres zurückgekehrt, erhielt Morus Anfang
1516 von König Heinrich VIII. den Antrag, in das Privy council
einzutreten. Er lehnte diesen Antrag ab, aber nicht grundsätzlich
und nicht für immer. Es war doch von hoher Bedeutung für ihn, daß
er, mitten in einem ganz unbedingten und radikalen Denken über
Staat und Gesellschaft begriffen, nun mit einem Schlage die Mög-
lichkeit-vor sich sah, sich nicht auf ein kritisches Verhalten zu be-
schränken, sondern an der Leitung seines Staates verantwortungs-
voll mitzuwirken. Damit war die Frage: Ideal und Leben ihm in
viel ernsterer Weise gestellt, als sie sich am Schreibtische lösen ließ.
So wurde denn das persönliche Erlebnis allem Anschein nach zum
Anlaß für ihn, dem flandrischen Utopiaentwurf einen anders an-
gelegten ersten Teil voraufzuschicken und danach auch den nun-
mehrigen zweiten Teil durchzuarbeiten und zu erweitern.
In diesem ersten Teile gab er in Gesprächsform eine eindrin-
gende und unerbittliche Staats- und Gesellschaftskritik, die das
ganze öffentliche Leben Englands: Äußeres und Inneres, Rechts-
pflege und Finanzen, Wirtschaft und Handel, Sitten und Erziehung
umspannte, und zum Schluß auch an die höchsten Fragen des
Staatszwecks, an die Staatsidee selber rührte. Die Analyse dieses
 
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