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Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0012
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12

Hermann Oncken:

dene ethische Begründung der Staatsgewalt. Sie ist den Anschau-
ungen Machiavells über König und Untertan, Staatszweck und
Staatsgewalt, Macht und Recht unzweideutig entgegengesetzt. Im
Jahre 1516 lag der „Principe“ des Italieners handschriftlich bereits
vor. Morus kann ihn aber nicht gekannt haben. Hätte er ihn ge-
kannt, so würde man aus diesen Sätzen herauslesen können, daß sie
gegen niemand anders als den Italiener gerichtet sein sollten; aber
auch, da dies nicht der Fall ist, wird man von ihnen sagen dürfen,
daß sie den Geist des wahren Antimachiavell der Zeit zu atmen
scheinen.
Um so mehr kommt darauf an, wie nach der negativen Staats-
kritik das positive Gegenbild in der Utopia ausgefallen ist.
Morus hat zunächst die Utopia aus allen außenpolitischen Le-
bensbeschränkungen bewußt herausgehoben. Sie ist eine entlegene
Insel, infolge schwieriger Landungsverhältnisse so gut wie unan-
greifbar und damit gegen alle Gefahren geschützt, die sich von frem-
der Gewalt für ihre ideale Existenz ergeben könnten. Die Isolierung
wird also grundsätzlich so hoch wie möglich gesteigert, was dem
politischen Denken des insularen Engländers an sich schon leichter
fällt als etwa dem Kontinentalen. Man beobachtet, daß die meisten
Utopien und Idealtheorien nicht anders verfahren, um dem Ein-
bruch fremder Machtwirklichkeiten in ihren Rechtstraum mit allen
seinen peinlichen Konsequenzen zu entgehen. Schon Platos Politeia
hat eine Lage seines Idealstaates am Meer verworfen, da sie nur ein
Bedürfnis nach auswärtigem Handel, und damit Habsucht und
Erwerbsgier her vorrufe; in den Nomoi wählt er eine fern von der
Küste im Innern Kretas gelegene Landschaft, die sich selber genüge
und weder der Einfuhr noch der Ausfuhr bedürfe. Bis zu Campa-
nella und den Neuesten hin kann man die Anstrengungen verfolgen,
mit denen — aus naheliegenden Gründen — der vollkommene Staat,
um so sein zu können wie er ist, den störenden Verlockungen und
Anforderungen der Macht entrückt wird.
Indem Morus den isolierten Staat weiterhin aus planmäßiger
Neugründung auf kolonialem Neuland entstanden sein läßt, löst er
ihn auch aus den historischen Zusammenhängen der europäischen
Staatengesellschaft heraus: er hat keine „verfallenen Schlösser und
keine Basalte“, er ist traditionsfrei. Mit dieser doppelten Voraus-
setzung erst ist die Bahn für die Abschaffung des Privateigen-
tums und die Einführung des Kommunismus in Produktion, Kon-
sumtion und Lebensgemeinschaft frei gemacht; sie wird dadurch
 
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